Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hatte im vergangenen Jahr die Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" eingesetzt. Ein breites Spektrum von VertreterInnen aus Ärzteschaft, Wohlfahrtspflege, Hospiz-Vereinen, Kirchen und Ministerien sollte unter Leitung von Klaus Kutzer, pensionierter Richter am Bundesgerichtshof, der Bundesregierung mit Rat und Tat zur Seite stehen. Mittlerweile liegt das Ergebnis der einjährigen Arbeit vor (vgl. www.bmj.de). Im Juli sollen die Empfehlungen der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" darüber entscheiden, ob §216 des Betreuungsrechts geändert werden soll.
Aufgabe der Arbeitsgruppe war es, Vorschläge zu erarbeiten, auf welche Weise Patientenverfügungen rechtssicher gemacht werden können. Denn die Vielzahl der kursierenden "Patientenbriefe", "Vorausverfügungen" oder "Patiententestamente", die regeln sollen, was passiert, wenn ein Patient nicht mehr darüber bestimmen kann, ob eine Behandlung eingeleitet, weitergeführt oder beendet werden soll, haben viel Unsicherheit in den medizinischen Betrieb gebracht und in einigen Fällen sogar die Gerichte beschäftigt. Doch wie soll eine Patientenverfügung aussehen, wie konkret sollte sie gehalten sein? Ist es sinnvoll, ein individuelles Testament zu verfassen oder auf Muster zurückzugreifen? Mit wem sollte man darüber sprechen, von welchen weiteren Maßnahmen sollte dieser Schritt flankiert sein?
Wohlgemerkt: Die Arbeitsgruppe hatte die Aufgabe, Richtlinien für die Abfassung eines Patientenwillens an die Hand zu geben; sie ging vom Selbstbestimmungsrecht und der medizinischen Mündigkeit derer aus, die ein Patiententestament abfassen wollen. Was Patientenverfügungen in einer Gesellschaft, in der es immer teurer wird, krank und betreuungsbedürftig zu sein und in der das Altwerden immer unwirtlicher wird, bedeuten könnten, ist eine ganz andere Frage; nur am Rande reflektiert wird auch, ob man als Gesunder über eine möglicherweise eintretende Grenzsituation sinnvoll entscheiden kann. Ein großes Problem besteht in einer möglichen rechtlichen Konstruktion, die - wie bei der Organspende - auf einen "mutmaßlichen Willen" des Patienten rekurriert, wo keine Patientenverfügung vorliegt. Die Furcht, dass alte, kranke und betreuungsbedürftige Menschen, die ihre Wünsche nicht mehr zu äußern vermögen, straffrei zu Tode gebracht werden könnten, wird vor allem von Betroffenenorganisationen und von juristischer Seite formuliert. Denn die Kontrolle durch die Vormundschaftsgerichte tritt nur dann ein, wenn sich Behandler und Betreuer nicht einig sind.
Gibt es eine Brücke zwischen legitimem medizinischem Selbstbestimmungsrecht und dem Schutz nichteinwilligungsfähiger Menschen? Die folgenden Kommentare beleuchten die beiden Seiten einer hoffentlich noch nicht abgeschlossenen Diskussion.
Arnd T. May
Entscheidungshilfe
Patientenverfügungen zwingen zur Auseinandersetzung mit den Wünschen des Patienten
Als anerkanntes Prinzip gilt in der Medizin und Medizinethik das Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung. Die Entscheidung eines einwilligungsfähigen Patienten ist bindend, so unvernünftig sie für andere erscheinen mag. Dies ist dem Respekt vor der eigenen Meinung und den Menschenrechten seit der Aufklärung geschuldet.
Die Meinung von Patienten, ob sie einen bestimmten medizinischen Eingriff bei sich vornehmen lassen wollen, hat sich mit den technischen Möglichkeiten differenziert. Eine Patientenverfügung eignet sich in besonderer Weise zwischen Fremden, die ihre moralischen Haltungen nicht kennen, zu kommunizieren. Die Bundesärztekammer fordert eine individuelle, auf die Wünsche des Patienten eingehende Behandlung. Dazu bietet eine Patientenverfügung die nötige Grundlage.
Um mögliche Entscheidungskonflikte der medizinischen Behandlung transparent machen, müssen entscheidungsrelevante Informationen zur Verfügung stehen. Die Beratung und Information muss wertneutral erfolgen, und es darf kein Zwang auf Ratsuchende ausgeübt werden. Eine Patientenverfügung ist eine individuelle Entscheidung eines Menschen und kein Werturteil einer Gesellschaft über einen Bewusstseinszustand. Abwegig wäre es auch, eine Erodierung der Rechte von Patienten im Chronischen Apallischen Syndrom (Wachkoma) zu befürchten, da in Deutschland der Grundsatz des Lebensschutzes gilt, von dem ich bei abweichender Meinung durch eine direkte Meinungsäußerung oder eine Patientenverfügung abweichen kann, aber nicht muss. Dies setzt eine bewusste Entscheidung voraus.
Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist ein hohes Gut, aber vermag einen anderen Menschen nicht zu einer Handlung (zum Beispiel Beihilfe zum Suizid) oder Unterlassung zu verpflichten, zu der er nicht bereit ist. Die Patientenverfügung hebelt somit die Gewissensfreiheit des behandelnden Arztes oder des beteiligten Behandlungsteams nicht aus. Nach Meinung der Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" des Bundesministeriums der Justiz muss ein Arzt rechtzeitig für eine anderweitige Versorgung des Patienten sorgen, wenn er die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann.
Eine Patientenverfügung setzt umfangreiche Überlegungen voraus und ist insofern Resultat eines bewussten Prozesses. Dies zu unterstützen, müssen bestehende Beratungsangebote ausgebaut und neue geschaffen werden. Einschränkungen der Entscheidungsmöglichkeiten beispielsweise durch eine geforderte Schriftform oder eine ärztliche Beratung engen die Verfügungsmöglichkeiten ein und müssen begründet werden. Die Arbeitsgruppe, die dem Ansatz der Selbstbestimmung und Gesundheitsmündigkeit folgt, spricht eine Reihe von Empfehlungen aus, es werden jedoch keine zwingenden Wirksamkeitserfordernisse festgeschrieben.
Patientenverfügungen sind ein Kommunikationsmittel des Patienten mit seiner Umwelt und bilden eine Möglichkeit zur individuellen, patientenorientierten Behandlung. Die Menge der über 180 verschiedenen Patientenverfügungsmuster bilden die zugrunde liegende Meinungsvielfalt der Autoren oder Organisationen ab. Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" wurden daher Textbausteine vorgestellt, die eine möglichst große Meinungsbreite darstellen. Eine Musterpatientenverfügung zu erstellen, war nicht unser Ziel und ist bei der Vielzahl an unterschiedlichen Lebenssituationen und Einstellungen auch nicht möglich. Dabei darf eine Patientenverfügung allein Wünsche zu so genannter passiver Sterbehilfe in Form eines Behandlungsverzichts oder -abbruchs und Forderungen nach sogenannter indirekter Sterbehilfe beinhalten. Bei erlaubter und geforderter indirekter Sterbehilfe steht nach dem Prinzip der Doppelwirkung die Schmerzfreiheit im Vordergrund. Der Patient stirbt wie bei passiver Sterbehilfe an seiner Erkrankung und nicht an einer sofort wirksamen, tödlichen Substanz. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten und muss verboten bleiben.
Eine Patientenverfügung zwingt die Behandelnden zur Auseinandersetzung mit den Patientenwünschen und fördert somit die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, die nicht zu einer Verpflichtung anderer werden darf.
Dr. phil. Arnd T. May ist Medizinethiker am Zentrum für Medizinische Ethik Bochum und Mitglied der Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" des Bundesministeriums der Justiz.
Erika Feyerabend
Dienstleistung
Patientenverfügungen zwingen das medizinische Personal zur tödlichen Unterlassungshandlung
Seit einigen Jahren steht die "Patientenautonomie" hoch im Kurs. Sie ist eine wahre Zauberformel und verweist auf die schöne Seite der Aufklärung: das freie Vernunftwesen, formuliert und fixiert seinen Willen in den Grenzen des geltenden Rechts und des gesellschaftlich Machbaren. Bei der Krankenbehandlung geht es aber nicht mehr allein um die souveräne Willensperson, die im freien Spiel des Marktes handelt und wirtschaftet. Das "nackte" Leben und Sterben steht auf dem Spiel. Das soll nicht mehr von "seelenloser Apparatemedizin" und autoritärer Arzt-Patient-Beziehung dominiert werden. Eine paradoxe Situation? Der vernunftbegabte Mensch wird zum Sklaven einer wild gewordenen medizinisch-wissenschaftlichen Maschinerie, die doch Herrschaft versprach - über die "Natur", auch die menschliche, und über den Tod.
In dieses ideologische Gewebe passt die Patientenverfügung. Ihr Versprechen: Die Kontrolle über den eigenen Körper und die Lebensumstände kann zurückgewonnen werden - per Willensentscheid. Vage, aber dennoch zwingend notwendig, muss in entscheidungsfähigen oder gesunden Tagen formuliert werden, unter welchen Umständen ein "lebenswertes" Leben nicht mehr vorstellbar ist und als aktueller Sterbewunsch zu gelten hat.
Die angebotenen Szenarien der Verfügungsanbieter legen nahe: Dieser Zeitpunkt tritt ein, wenn keine juristische oder faktische Willensfähigkeit mehr vorhanden ist. Diese wird zum Maßstab des Menschseins überhaupt. Als eine Art Dienstleistung von Ärzten, Ärztinnen und Pflegekräften wird dann gefordert, was kein Staat von sich aus verordnen könnte: aktives Zu-Tode-Bringen von Schwerkranken, Bewusstlosen oder verwirrten Betagten, die keineswegs in absehbarer Zeit sterben müssen. Verzicht auf medizinisch mögliche Behandlung, auf künstliche Ernährung oder Flüssigkeit und hochdosierte Schmerzmittel mit Todesfolge, das sind die Methoden der Wahl.
Der "schnelle Tod" gilt heute als rein individueller Wunsch. Es sind aber Gerichte und ärztliche Standesvertretung, die die Grenzen des Zulässigen vorausschauend und neu abgesteckt haben: der Bundesgerichtshof mit spektakulären Einzelentscheidungen, die Bundesärztekammer mit Grundsätzen zur Sterbebegleitung, die "passive Sterbehilfe" für Nicht-Sterbende standesrechtlich absichert. Nun soll die Politik mündliche und schriftliche Willensbekundungen verbindlich machen und Betreuer/innen wie Krankenhauspersonal zur tödlichen Unterlassung verpflichten.
"An den Menschen etwas erkennen kann man nur unter der absoluten Bedingung, dass der philosophische (theoretische) Mythos des Menschen zu Asche reduziert wird", schrieb der französische Philosoph Louis Althusser. Reden wir also über die konkreten Bedingungen des Krankseins heute und über die Folgen ökonomischer Kalküle und medizinischer Prognosemacht. Das ärztliche Urteil über die Reha-Fähigkeit einer Schlaganfall-Patientin wird nach Wunsch des Kostenträgers nach zwei Wochen gefällt. Zeit für individuelle Verläufe sind nicht vorgesehen. In eine qualifizierte, stationäre Pflegeeinrichtung (der Phase F) kommt nur jeder vierte Koma-Patient. Altersverwirrte Menschen sind im Heim mit dem Pflegenotstand konfrontiert. Lange Zeit für´s Essen und soziale Kontakte sind von der Pflegeversicherung nicht vorgesehen. Künstliche Ernährung und einsame Tage im Alter sind die Folge.
Die häusliche Pflege ist von Konflikten mit Kostenträgern überschattet, um Krankengymnastik-Rezepte und um Pflegeeinstufung. Individuelle Therapieangebote sind für "unheilbar" geltende Kranke und Betagte, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integrierbar sind, nicht vorgesehen. Die Qualität ihrer Begleitung ist eine Klassenfrage. Wer genug Geld hat, kann Therapie wählen und Pflege kaufen. Wer arm ist, pflegt selbst und ist oft heillos überfordert. Der Mythos vom "willensfreien" Menschen lenkt nicht nur von den sozialen Bedingungen ab, sondern verankert die ökonomischen Kalküle, die Prognose- und (Lebens-)Werturteile in das Wünschen und Wollen der Individuen. Das betrifft auch die gesetzlichen Vertreter/innen und Behandler/innen, die demnächst mutmaßen und verhandeln dürfen, ob im Niemandsland der Unheilbaren und Sprachlosen der "Tod" die bessere Alternative ist.
Erika Feyerabend ist Sozialwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des BioSkop-Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften e.V.
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