FREITAG: Ihre und Karl Mickels jüngste große Arbeit, die »Goldberg-Passion« für Soli, Chor, Kinderchor und Orchester«, verarbeitet blutige Geschichte. Musik als Denkzeichen. Ein Beitrag zur Holocaustdenkmaldebatte?
FRIEDRICH SCHENKER: Geplant war das nicht. Oft aber ist es so: man komponiert, betreibt Kunst kreativ und plötzlich steht man auf der Erfinderstraße, und es fällt einem was zu. Man ist mitten im Winde. Guter Zufall war es, daß gerade während dieser Denkmaldebatte der Text von Karl Mickel und meine Musik entstanden sind. Aber das ist von der Debatte nicht ausgelöst worden. Ich denke, unsere Goldberg-Passion kann in weiteren Diskussionen durchaus ihren gewichtigen Beitrag leisten.
Holocaust, ein Wort, tausendfach wie Asche
n Wort, tausendfach wie Asche im Munde geführt. Was verstehen Sie darunter? Ist die Benennung richtig, wenn Rassenkrieg und Eroberungskrieg getrennt marschieren?Holocaust steht ja für die Judenausrottung in Auschwitz und anderswo. Die Frage ist durch den Jugoslawienkrieg neu ins Spiel gebracht worden. Ich meine die ahistorische Verwendung des Begriffs durch einige Minister der NATO-Partei. Genauso polemisch läßt sich fragen: Betrieb nicht die NATO, indem sie mit ihren Bomben, ihren Raketen, ihre Missiles Menschen verbrannte, eher Holocaust als die andere Seite? Die Konstellation Hitler - Milosevic könnte man auch sehen. Die USA, die noch nie von einer einzigen auswärtigen Bombe getroffen worden sind, realisieren ihre Interessen fernab mit Mitteln, die genauso inhuman sind, wie Hitler, der ja den Holocaust auch nicht in der ÂHeimat verwirklicht hat, sondern ihn ins eroberte Ausland verlagert hat.Der Zweite Weltkrieg war im Gange.Genau. Marschieren Rassenkrieg und Eroberungskrieg getrennt? Auf keinen Fall gibt's 'ne ganze Menge Undercoveragenten der einen Marschabteilung in der anderen zu finden.Häufig ist zu hören, Auschwitz sei beschreibbar, aber nicht verstehbar. Das Begreifen dieser Unmöglichkeit müsse erlernt und verstanden werden, um das Geschehen ermessen zu können.Ablesbar ist, daß in jeder Art von Krieg die Soldaten-Menschen zu Bestien werden. Da ist zu rechnen mit allen unvorstellbaren Bestialitäten. Deswegen ist es, glaube ich, wichtig zu erwähnen, daß der Holocaust erst innerhalb eines Krieges in Gang kam, daß er stattfand, nachdem ein Krieg mit einem hohen Brennwert angeheizt war. Es ist erschreckend, mit welcher Normalität die Welt heutzutage solche mörderischen Perversitäten hinnimmt. Am bequemsten geht das im Heimkino, vor dem Fernseher. Man kann dabei Bier trinken, rauchen, stricken.Der Gedanke macht erschrecken, daß Massenvernichtung zwar Ausdruck einer »Pathologie der Moderne« sei, aber auch ihre Vollstreckung, ihr Endergebnis sein könnte. Ich frage nach dieser »Pathologie«, weil die Goldberg-Passion am Ende ein positives Bild bringt, einen Hoffnungsschimmer, der hell aufleuchtet. Ein Ansatz, der für beide Autoren eher ungewöhnlich ist.Das ist immer ein Pendeln zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit.Sie verstehen sich als Radikalpazifist. Wieweit tangiert diese Haltung Ihre Musik?Ich habe zum pazifistischen Gebrauch eine Reihe Stücke komponiert: die Aria bravura »Die Friedensfeier« nach Mickel, die Komposition auf Hölderlins Ode »Der Frieden«, der noch Wolfgang Heinz die Sprechstimme geliehen hat, die »Missa nigra«. Und ich denke selbstverständlich an meine Strategien gegen den Viervierteltakt. Der kommt ja von der Marschiermusik, die ihren Beitrag zum Krieg geliefert hat: mit Hurra und Freude in die Schlacht! Der Viervierteltakt ist heute zu achtundneunzigkommafünf Prozent Dreh- und Angelpunkt jeglicher Popmusik, die, wenn auch anders verklausuliert, den Zielen der Ablenkung und Verführung dient. Vierviertel ist in der Natur nicht vorhanden, um so größer daher die Möglichkeit, Zeitimpulse zu manipulieren.Karl Mickels Passions-Libretto verbindet eigene Dichtung mit biblischen Motiven und Dokumenten der Dichtungsgeschichte. Fabulierkunst und authentischer Bericht durchdringen einander. Sie komponierten große Chöre, Rezitative, Arien, Akkompagnati und so weiter. Ein Evangelist tritt auf. Welche Geschichte wird erzählt?Die Evangelisten-Geschichte im Stück handelt von zwei polnisch-jüdischen Häftlingen, zwei Brüdern, die in Rehmsdorf, einem Außenlager von Buchenwald, gefangen waren. Ein Schienentransport sollte sie in das Tschechische bringen, wohl nach Theresienstadt. Und auf dem Wege durchs Erzgebirge sind sie in der Nähe von Niederschmiedeberg vom Zug abgesprungen, geflohen. Sie wußten nicht, wo sie sind, und sie haben sich dann im Wald versteckt. Über ihre Ängste wird berichtet. Sie sind dann von einem Einwohner des Ortes, Arno Bach, entdeckt worden. Er hat sie erst einmal verpflegt, die Bemmen und das gekochte Ei gebracht, und hat sie dann später in einem Holzschuppen versteckt. An diesem Ort sollen beide Brüder eine Liebesbezihung mit einer ausgebombten, in Bachs Haus wohnenden Witwe gehabt haben. Am 8. Mai befreite die Rote Armee Niederschmiedeberg. Hier endet der Bericht der Passion.Das Werk exponiert gegen Ende ein vollkommen autonomes Instrumentalstück, es potenziert gleichsam polyphone Substanzen aus den Bachschen Goldberg-Variationen. Weshalb liegt so viel Gewicht auf Motiven und Ideen von J. S. Bach?Man nimmt sich das Recht, Erfindungen von Künstlern, die vor einem gelebt haben, in Eigenes einzuarbeiten. Bach selbst tat das ja mit Vivaldi auch. Ein direkter Anlaß für die Passion war das Hörerlebnis der »Goldberg-Variationen« mit Glenn Gould. Ich hatte schon gewisse Erfahrungen mit Bachschem Material.Und die Idee, ein selbständiges Instrumentalstück der Passion einzuverleiben?Nach Mickels Überlegung sollten in der Passion an der Stelle »Einmarsch der Roten Armee« die gesamten Bachschen Goldberg-Variationen original erklingen, sozusagen als Inszidenzmusik. Stellen Sie sich vor: bis dahin waren schon sechzig Minuten Musik gelaufen, dazu kämen eine dreiviertel Stunde die originalen Goldberg-Variationen. Das hätte den Zeit- und Stilhorizont gesprengt. Ich setzte an diese Stelle die Verarbeitung der für mich expressivsten und herausragendsten Variation, der in g-moll.Aufschlußreich ist besonders der Teil »Antiphon - Das Gesetz«. In These und Gegenthese werden darin Recht und Moral gleichsam vernichtet. Zuletzt heißt es: Du sollst töten! Wie haben Sie das Problem kompositorisch gelöst? War ees überhaupt lösbar?Einen »negativen Text« zu komponieren, ist nur als Provokation lösbar. Mickels Gedicht führt eine Verfassung oder Gesetzestafel vor, welche die menschlichen Moraldoktrinen auf den Kopf stellt. Die positiveen Forderungen des Antiphons werden von einem Kinderchor eingefordert, in ruhiger, einfacher Diktion: Das Recht auf Nahrung, das Recht auf Kleidung, Wohnung, Bildung, Arbeit, das Recht auf Unverletzlichkeit der Person, das Recht auf Heilung, das Recht des alten Menschen auf Pflege, das Recht des Toten auf Ruhe im Tode, das Recht der Kinder auf Schutz und Fürsorge der Gesellschaft und das Recht des elenden irrenden Menschen auf Nachsicht. Und jedes einzelne Recht wird jedesmal nieder- und zurückgeschmettert durch virtuoseste Formen von Chortechnik des großen gemischten Erwachsenenchores: doppelter Kontrapunkt, Spiegel, Fugato. Raffinessen der kontrjapunktischen Arbeit kommen zum Einsatz. Der Erwachsenenchor schmettert das »Du sollst töten!« in zugespitzter, virtuosester Form. Hier ist gemeint: Heilung durch Provokation.Die langen Schatten, die der Krieg wirft, schlagen auch auf die Kunst. Die Auseinandersetzung darüber vereint die Künstler nicht, sie trennt sie eher.Wenn ich für mich spreche, kann hier nicht jeder recht haben. Ich spreche den Leuten, die andere töten, jegliches Recht ab, recht zu haben. Unter Künstlern gibt es immer welche, die die Tötungstrommel schlagen. Ich weiß nicht, was die Leute dazu treibt, das immer effektivere Töten zu preisen.Ihre »Missa nigra« von 1979, in jenen Jahren bedeutender MultiMediaEntwurf und bis heute aktuell geblieben, spiegelt die Wirklichkeit der NEUTRONENWAFFE. Diese Waffe, so erklärten die US-Experten, würde das Leben der Menschen auslöschen, die Objektwelt dagegen unversehrt lassen. Das Finale der »Missa« Âimplementiert diesen Zusammenhang ästhetisch-strukturell. Gehenkten schnarrenden Puppen steht das letzte Röcheln der Agierenden gegenüber.Die NATO hatte die einmalige Chance, ihre modernste Waffentechnik, noch nicht die allerschlimmste, aber vielleicht die drittschlimmste, an Zivil-Subjekten und -Objekten der höchsten Klasse zu testen. Krieg wurde geführt gegen die Dritte Welt, gegen Vietnam, gegen den Irak. Nun aber wird es möglich, die Waffen an der westlichen Zivilisation selbst auszuprobieren, so, als würden sich die Zivilisationen gegenseitig abschießen.Mit Friedrich Schenker sprach Stefan Amzoll Die "Goldberg-Passion", ein Auftragswerk des Mitteldeutschen Rundfunks, wird am 9. November im Großen Saal des Neuen Gewandhauses Leipzig uraufgeführt
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