Jede Lohnrunde beginnt mit dem Vorwurf des Rituals. Die Gewerkschaften als zeremonieversessene und damit unzeitgemäße Lobbyisten zu stigmatisieren, ist selbst schon zum Ritual geworden. Der Zweck ist offenkundig: der Dogmatismus der anderen Seite soll verborgen bleiben. Dabei sind es gerade die Arbeitgeberverbände, die seit Jahren immer wieder dasselbe fordern: die Fortsetzung einer moderaten Lohnpolitik. Zunächst Umverteilung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens zugunsten der Gewinne, dann vermehrte Sachinvestitionen und schließlich rentable Arbeitsplätze - so immer wieder die Botschaft ans arbeitende Volk.
Die Realität sieht anders aus. Ohne Zweifel gab es eine moderate Lohnpolitik, und sie hatte auch den gewünschten Einkommenseffekt: Allein in de
in in der Metall- und Elektroindustrie stiegen die Nettogewinne vom Tiefpunkt 1993 mit 0,6 Milliarden Euro bis zum Jahr 2000 auf 25 Milliarden, während die Metaller Verteilungsverluste erlitten. Nur zusätzliche Beschäftigung hat es nicht gegeben. Die versprochenen Investitionen zum Erhalt und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze sind ausgeblieben. Das sieht mittlerweile auch der "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung". Dieser sogenannte "Rat der fünf Weisen" stellt in seinem jüngsten Jahresgutachten fest: Auf der Kostenseite kam es im vergangenen Jahr durch Steuersenkungen (10 Milliarden Euro), relativ niedrige Realzinsen, vor allem aber durch "moderate Lohnentwicklung" zu einer positiven Ertragsentwicklung. Nur die Sachinvestitionen sind nicht angesprungen - an dieser Tatsache kommen auch die Wirtschaftsweisen nicht mehr vorbei. Trotzdem bleiben sie, wie die Arbeitgeberverbände, bei ihrer Dogmatik, die auf einer Tautologie basiert: Wenn die Arbeitslosigkeit auch nach Lohnzurückhaltung noch zu hoch ist, dann hat die eben noch nicht gereicht. Hier gilt das Motto: Schade um die Wirklichkeit, wenn sie dem neoliberalen Modell nicht folgt. Diese peinliche Flucht in die Immunisierung gegenüber der ökonomischen Wirklichkeit basiert auf einem schwerwiegenden Fehler. Löhne werden nur als Kostenfaktor gesehen. Sinken die Lohnkosten, dann nimmt noch lange nicht die Nachfrage nach Investitionen aus den zusätzlichen Gewinnen zu. Vielmehr sind die durch Lohnzurückhaltung erzielten Extraprofite in die Finanzierung arbeitsplatzvernichtender Rationalisierungen und Fusionen geflossen. Vor allem landen sie auf den Spieltischen des internationalen Kasinokapitalismus. Aber es kommt noch peinlicher: Die Lohnzurückhaltung animiert die Investoren zum Pessimismus. Denn sie führt zu geringer effektiver Nachfrage gegenüber dem gewachsenen Produktionspotenzial. Zu arbeitsplatzschaffenden Investitionen kommt es aber erst dann, wenn die Nachfrageerwartung steigt. Nach dem Einbruch der Exportzuwächse seit Herbst 2000 belastet vor allem die unzureichende Binnennachfrage die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Deshalb wird jetzt eine expansive Lohnpolitik gebraucht, um die private Konsumnachfrage zu stärken. Natürlich werden von den Ratgebern der Arbeitgeberverbände wieder mal die Nachfrageeffekte kleingerechnet. Dabei bestreitet niemand ernsthaft, dass nicht die Brutto-, sondern die Nettolöhne die Basis des privaten Konsums bilden. Ebenso ist unstrittig, dass bei wachsendem Einkommensrisiko und bei drohendem Arbeitsplatzverlust das Angstsparen zunimmt. Nur wie, wenn nicht durch höhere Löhne, soll denn die Kaufkraft entstehen, die dann auch wieder in vermehrte Beschäftigung münden kann? Schließlich verliert im Zuge der konjunkturellen Besserung auch das Angstsparen seine Bedeutung. Die moderate Lohnpolitik, die im "Bündnis für Arbeit" im Januar 2000 ausgekocht wurde, darf nicht fortgesetzt werden. Lohnerhöhungen müssen mindestens im Ausmaß des Anstiegs der Produktivität und zum Ausgleich der Inflationsrate durchgesetzt werden. Damit wird der verteilungsneutrale Spielraum ausgeschöpft, der derzeit für die Gesamtwirtschaft bei etwa vier Prozent liegt (2,5 Prozent Produktivitätsanstieg plus 1,5 Prozent Inflationsausgleich). Bei einer Lohnerhöhung in dieser Größe bliebe die Verteilung zwischen Löhnen und Gewinnen konstant. Löhne, die in vollem Ausmaß den verteilungsneutralen Spielraum ausschöpfen, schaffen erst die Nachfrage, die gebraucht wird, um das Produktivitätswachstum auch auszuschöpfen. Bei der gewerkschaftlichen Lohnforderung von 6,5 Prozent dienen die zusätzlichen 2,5 Prozent einer sanften Korrektur der Umverteilung zugunsten des Kapitals in den vergangenen Jahren. Über die Umverteilungskomponente käme zusätzliche Nachfrage auch der Wirtschaft zugute. Mit einer expansiven Lohnpolitik wird nicht, wie immer behauptet, das zarte Pflänzchen Konjunktur zertreten. Ganz im Gegenteil: Die Konjunktur braucht den binnenwirtschaftlichen Impuls. Für den Erfolg einer solchen Lohnpolitik gibt es Zeugen. Im letzten Jahr sind in Großbritannien - ähnlich wie in Frankreich - die Reallöhne um mehr als 3,5 Prozent gestiegen. Der Erfolg zeigt sich in einer - im Vergleich zu Deutschland - weitaus besseren Lage der Konjunktur. Aber klar muss auch sein: Die Lohnpolitik kann nicht allein die konjunkturelle Wende bringen. Die Politik als Ganzes muss endlich ihre Verantwortung für Beschäftigung übernehmen. Dazu gehört eine antizyklische Finanzpolitik und ein öffentliches Investitionsprogramm, das auf die Kommunen zu konzentrieren ist. Das Schrumpfen öffentlicher Infrastrukturinvestitionen - vor allem in der Bildung und beim Umweltschutz - widerspricht dem Grundsatz vorsorgender Politik für künftige Generationen.