Perestroika in Byzanz

MACHTWECHSEL Die Kroaten haben ihr System satt und setzen alle Hoffnung auf eine schwache und zerstrittene Opposition. Die soll sie nach Europa bringen

Es gebe "schwierige Vaterländer", hat Gustav Heinemann einmal gesagt, und eines davon sei Deutschland. Ein anderes ist Kroatien. Als besonders arg "verspätete" Nation, die an eine unglückliche Geschichte anknüpft und ihre Staatswerdung obendrein auf einen fragwürdigen Mythos gründet, tun die Kroaten sich schwer, zu europäischer Normalität zu finden. In diesen Tagen haben sie noch einmal eine Chance.

Wenn sich am Totenbett von Franjo Tudjman nicht noch einmal die finstersten Gestalten aus seiner Umgebung durchsetzen, wird das Land spätestens im Januar seine erste politische Wende erleben. Die erste deshalb, weil 1990 eine wirkliche Wende nicht stattgefunden hat. Eine Machtelite hat, ganz wie in Serbien, ihre sozialistischen Phrasen gegen nationale ausgetauscht und sich mit der organisierten Verfolgung eines Teils der Bevölkerung einen neuen Daseinszweck verschafft. In Kroatien hat alles nur besser funktioniert: Die Gründung des "ethnisch reinen" Nationalstaats und die Anbindung der wenigen Dissidenten an die phraseologisch gewendeten Machthaber. Noch immer ist alles Wichtige geheim oder wenigstens unklar, noch immer dient die Wirtschaft allein den Interessen einer kleinen Schicht aus parteitreuen Aufsteigern, die sich mit faulen Bankkrediten und guten Beziehungen über Wasser halten, und noch immer produziert das System fatale Krisen, aus denen die Bevölkerung verarmt und das Management gestärkt hervorgeht.

Das Faschistische an Kroatien, der Serbenhass, die halbe Rehabilitation der Symbole aus der Ustascha-Zeit, ist in der Summe bloß Teil der ideologischen Mimikry. In Wirklichkeit stammen 90 Prozent der Werte und Ideale, 90 Prozent der Machthaber und 90 Prozent der systemadäquaten Verhaltensweisen aus der Zeit des Selbstverwaltungssozialismus. Geschlossene rechte Weltbilder sind in Kroatien nicht verpönt, aber auch nicht häufiger anzutreffen als anderswo. Alle Versuche von Teilen der Regierungspartei HDZ, beim katholischen Fundamentalismus anzudocken und etwa die Fristenlösung in Frage zu stellen, scheitern an spontaner Empörung. Die Kroaten haben mehrheitlich ein sozialistisches Weltbild, das sich mit Indifferenz gegenüber dem Faschismus allerdings gut verträgt: Faschisten sind immer die anderen. Viele Serben wurden von ihren Arbeitsplätzen beispielsweise mit der Begründung vertrieben, dass ihr abweichendes Abstimmungsverhalten "Unruhe ins Kollektiv" gebracht hätte.

Ihr System freilich haben die Kroaten nun satt; die Umfragen signalisieren der Opposition eine Zweidrittelmehrheit. Tudjman hat, wie inzwischen sogar sein früherer Leibarzt zugibt, Krebs mit Gehirnmetastasen. Selbst wenn er seine aktuelle Krise - einen Darmdurchbruch mit Bauchfellentzündung - überleben sollte, wird er nicht ins Amt zurückkehren und spätestens in einigen Wochen sterben. Das bietet die Chance auf einen wirklichen Machtwechsel. Die HDZ besitzt für das Amt einen einzigen Kandidaten, der sich gegen einen aus der Opposition durchsetzen könnte: Außenminister Mate Granic. Selbst wenn die allesamt unpopulären Mächtigen in der Partei über ihren Schatten sprängen und Granic aufstellten, hätten sie wenig gewonnen. Denn: Granic würde nicht so regieren wie Tudjman und einer Parlamentarisierung des Systems nicht im Wege stehen. Wahrscheinlicher noch ist, dass Drazen Budisa, der Vorsitzende der Sozialliberalen Partei, das Rennen machen würde.

Beim Blick auf die Opposition stellt sich unter Kroaten wie unter internationalen Beobachtern wenig Begeisterung ein. Die "oppositionellen Sechs" haben sich - vorwiegend aus taktischen Erwägungen - zu zwei Listenverbindungen zusammen geschlossen. Was sie von einander unterscheidet, ist schwer zu sagen, und selbst gegen die Regierungspartei sind sie wenig trennscharf. Keiner ihrer Anführer verfügt über ein besonderes Charisma, die Parteien sind überwiegend schwachbrüstig oder zerstritten. Manche Oppositionelle, wie Budisa oder der Sozialdemokraten-Vize Zdravko Tomac, möchten sich an nationaler Gesinnung von keinem Tudjman übertreffen lassen. An das Gedenken des "Vaterländischen Krieges" von 1991 - in dem Kroatien gar nicht das unschuldige Opfer war, als das es sich gerne darstellt - wollen auch die meisten Oppositionellen nicht rühren. Bei der Vertreibung der Krajina-Serben 1995 haben sie geschwiegen, und immer wieder fühlten sie sich bemüßigt, ihr Regime gegen "unfaire" Kritik aus dem "Ausland" zu verteidigen.

Trotzdem wäre ein Machtwechsel für Kroatien ein wesentlicher Fortschritt. Die Opposition setzt nämlich auf das zweite, nicht eingelöste Versprechen von 1990: Die Kroaten wollten nicht nur von Belgrad unabhängig werden, sondern auch ein anerkannter Teil der europäischen Völkerfamilie. Dieses Versprechen kann eine neue Regierung nur halten, wenn sie sich von Brüssel, Berlin und der OSZE an die Hand nehmen lässt. Bei der dramatischen Wirtschaftslage bleibt ihr da ohnehin keine Wahl. Alle Oppositionsparteien haben feierlich geschworen, mit dem Haager Tribunal zusammen zu arbeiten und die teure Unterstützung für die Extremisten in der Herzegowina und deren Armee einzustellen. Das byzantinische Präsidialsystem soll durch ein modernes parlamentarisches ersetzt werden, man will mehr Demokratie und mehr Transparenz wagen. Mag die Opposition per Saldo auch wenig geschickt und charakterfest sein, so weiß sie doch wenigstens, wo Barthel den Most holt.

In den meisten ost- und südosteuropäischen Ländern ist die Hoffnung auf Europa das stärkste Pfand aller Demokraten: Nur wenn die autoritären, undurchsichtigen Strukturen fallen, haben sie eine Chance, zum Club der Reichen zu gehören. Demokratie für Energie - die Parole, nach der an serbische Städte Winterhilfe gezahlt wird, gilt für den ganzen Osten. Der Mechanismus wirkt in Serbien - in Kroatien aber nur schwach. Die Kroaten nämlich fühlen sich per se als Westeuropäer, müssen es ihrem Selbstverständnis nach also nicht erst werden. Der sterbende Tudjman teilte mit vielen seiner Landsleute ein veraltetes, wenn auch noch sehr suggestives Bild von einem Europa der fein säuberlich abgegrenzten Nationalstaaten mit eigener Flagge, Hymne und Sprache und mit lauter Bismarcks, Talleyrands oder Disraelis an der Spitze. Das politische Europa von heute galt ihm als degeneriert; seine Anführer hatten von Geschichte keine Ahnung und vor allem nicht verstanden, dass Nationen mit Blut und Eisen geschmiedet werden.

Manche Europäer haben dieses anachronistische Europa-Bewusstsein willentlich oder unwillentlich gefördert: etwa Alain Finkielkraut, der seine abstrakten Ideen vom "Nationalismus der kleinen Völker" auf die Kroaten projizierte, und einige reaktionäre Politiker aus Bayern und Österreich, die in Za greb gern erklären, dass die Kroaten schon europäisch genug seien und sich nichts gefallen lassen sollten. Der frühere Welt-Korrespondent Carl Gustaf Ströhm erklärt den Kroaten in Zeitungskolumnen und Fernsehsendungen den Westen. Die Quintessenz ist stets, dass dort einige Linke und Ultraliberale die Zerstörung Jugoslawiens nicht verwinden könnten und Kroatien aus Rache ungerecht behandelten. Viele Kroaten, die Oppositionspolitiker eingeschlossen, wollen diese Sprüche nicht mehr hören. Sie wollen endlich anerkennen, dass Kroatien ein kleines und armes Land ist.

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