FREIHANDEL, FEINDBILDER UND FOLKLORE Das WTO-Treffen wird von einer "aggressiven Woche" umrahmt - Fühlungnahme mit dem Wahlkampf um die US-Präsidentschaft nicht ausgeschlossen
Für den "Protest des Jahrhunderts", wie es heißt, mobilisieren nationale und regionale Gruppen in den USA schon seit Monaten. Die "lange Schlacht um den Freihandel", war gerade im neoliberalen Frontblatt Economist aus London zu lesen, müsse "gegen viele Feinde geführt werden, ob Protektionisten, Gewerkschaftler, Möchtegern-Monopolisten und selbst Wirtschaftswissenschaftler". Eine lockere Allianz von reformorientierten bis die WTO rundum ablehnenden Gruppierungen hat geplant, Seattle bis zum 3. Dezember zum Schauplatz diverser Aktionen zu machen.
Seattle liegt im US-Staat Washington (nicht zu verwechseln mit der Hauptstadt Washington D.C., die sich sechs Flugstunden entfernt an der Ostküste befindet) im pazifischen Nordwesten der USA. Die Stadt bietet sich dank
sich dank ihrer politischen Infrastruktur für medienwirksame Proteste wie kaum eine andere in den USA an. Vielen US-Unternehmen gilt sie als Sprungbrett zu den Märkten Asiens - ein Viertel aller Arbeitsplätze hängt hier vom Export ab.Wegen der gewerkschaftlichen Verankerung in einzelnen Branchen sehen sich deshalb auch die örtlichen Verbände verpflichtet, zum Thema Globalisierung und Freihandel eine eher arbeitnehmerfreundliche Position zu beziehen. Erstmals seit Jahrzehnten lässt sich in den USA von einem vorsichtigen Protest-Bündnis zwischen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sprechen.Seattle gilt als geographisches Herz einer Kultur, in der Umweltschutz, das Misstrauen gegenüber der Zentralregierung, indianische Widerstandserfahrung und Aktionsformen des zivilen Ungehorsams selbst in Teilen der "Normal"-Bevölkerung populär sind. Ende Oktober beispielsweise besetzten mehrere Aktivisten in Portland (Bundesstaat Oregon) für fünf Stunden das FBI-Büro: Ihre Forderung war die Freigabe der Akten über den Todeszellen-Insassen Mumia Abu-Jamal.Mit Aktionen bis hin zur Kaufhausbesetzung hoffen die Organisatoren des Direct Action Network (DAN) - ein Verbund aus tatsächlichen und ehemaligen Westküsten-Linken - weltweite Aufmerksamkeit auf die WTO-Konferenz zu lenken. "DAN stellt die Infrastruktur für eine aggressive und farbenfrohe Woche zivilen Ungehorsams, die das WTO-Treffen stilllegt und die Weltöffentlichkeit zum Nachdenken anregt", heißt es nicht unbescheiden. "Wir fordern einen Sitz am Verhandlungstisch, wenn sich die WTO das nächste Mal zu treffen versucht."Finanziell und juristisch unterstützt wird das Vorhaben von NGO wie Global Exchange, Earth First und der Ruckus Society sowie von der nationalen Anwaltsvereinigung. Ebenfalls mit dabei sind die "Wobblies" der Industrial Workers of the World (IWW) und Aktivisten der Peoples Global Action. Im Vorfeld gab es den Konsens: gewaltfrei, keine Waffen, keine Drogen, kein Sachschaden. Wer in der Aktionswoche etwa beim Blockade-Straßentheater, beim Transparente-Aufhängen an einem Hochhaus, beim stillen Gebet auf der Kreuzung oder bei "einer agressiveren Konfrontationstaktik" festgenommen wird, dem steht die Unterstützung eines Anwältekollektivs zu.Das dürfte auch bitter nötig sein, denn die Polizei hat angekündigt, Pfeffergas anzuwenden und ein militärisch ausgerüstetes Sonderkommando zu ordern. Im Einsatz sein werden zudem das US Secret Service, das FBI, das Bureau of Alcohol, Tobacco and Fire Arms, das Außenministerium, der County-Sheriff mit seinen Untergebenen sowie die Polizei von Seattle. Weniger spektakulär als das militante Straßentheater wird sich Seattle abseits der offiziellen WTO-Tagung bis zum 3. Dezember zeigen, wenn jeweils zu einem spezifischen Thema Arbeitsgruppen tagen (Umwelt/Gesundheit, Arbeiter/Menschenrechte, Nahrung/Landwirtschaft). Einen ersten Höhepunkt dürfte ein hochrangiges Podium darstellen, auf dem sich der Verbraucheranwalt und Ex-Präsidentschaftskandidat Ralph Nader und Vandada Shiva als Vertreter der Globalisierungsgegner mit der Kapitalseite messen. Von dieser Seite werden Scott Miller von Procter and Gamble und der stellvertretende US-Handelsminister Davis Aaron erwartet. Die Globalisierung sei der "extremste Restrukturierungsprozess des Globus seit der industriellen Revolution", behauptet die Einladung.Am 2. Dezember darf die versammelte Weltpresse Ausschau halten nach der "größten Protestdemonstration auf US-amerikanischem Boden gegen den Freihandel" - zum "walk-out" wird mit mindestens 50.000 Teilnehmern aus rund 20 Ländern gerechnet. Der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO hat bereits Flugblätter verteilt, mit denen Lohnabhängige in abgeschwächter Form aufgerufen werden, "den Tag freizunehmen". Wegen der Demonstration sei so oder so mit Transportproblemen zum Arbeitsplatz zu rechnen. Inzwischen ist die Zahl der Organisationen, die zur Teilnahme aufrufen, auf über 300 gewachsen. Die Globalisierungsgegner könnten die Stadt "in einen Karneval des Protests und vielleicht sogar in einen Sumpf verwandeln, in dem gar nichts mehr geht", hieß es kürzlich mit sympathisierenden Untertönen in der New York Times." ... kein einziges Gesetz ändern, nur weil die WTO es will"Es liegt nahe, die Anti-Freihandels-Kampagne unter der Rubrik Skurriles abzuhaken oder den Organisatoren grün-gläubige Naivität zu bescheinigen, die Nationalismus und Nationalstaatsgläubigkeit fördere. Haben sich nicht bereits rech te Populisten wie Österreichs Haider, Blocher in der Schweiz und der US-Rechtsausleger Buchanan gegen Freihandel und Globalisierung geäußert? Macht man sich mit der Ablehnung kapitalistischer Globalisierung nicht zum Handlanger einer viel größeren Kampagne von rechts, die als sozialer Protest daherkommt ? Die Einordnung der Anti-WTO-Kampagne in das Verbands- und Parteienspektrum der USA jedenfalls fällt vergleichsweise einfach aus. Liberalisierungsentwürfe der Clinton-Administration stoßen seit Jahren zunehmend auf Skepsis in der politischen Elite. Noch 1992 machte Clinton mit dem NAFTA-Freihandelsabkommen Wahlkampf - und gewann die Präsidentschaft. Fünf Jahre später scheiterte er beim Versuch, eigene Sonderbefugnisse für Außenhandelsabkommen gesetzlich zu verankern, an einem massiven "No" des US-Kongresses. Die US-Stahlindustrie setzte Import-Quoten durch, und Chinas Aufnahme in die WTO droht wiederum am US-Kongress zu scheitern. Vorbei sind die Zeiten, da riesige Mehrheiten in den USA dem Freihandel grünes Licht erteilten. Zwar unterstützen Umfragen zufolge mehr als zwei Drittel der US-Bevölkerung ihr Land als "Führer der globalen Wirtschaft". Doch rund 45 Prozent plädieren dafür, den "Trend zur Globalisierung zu verlangsamen, weil sie auch amerikanischen Arbeitern schadet". Der seit acht Jahren anhaltende Wirtschaftsboom hat die wirtschaftliche Unsicherheit, die Angst vor Jobverlust, geringeren Renten und mieser oder gar keiner Krankenversicherung nicht beseitigt.Etwa ein Drittel der Republikaner im Kongress ist gegen Freihandel, weil man internationale Organisationen wie die WTO hasst, "Rot-China" als Hauptfeind betrachtet und Umweltschützer verachtet. Skeptisch bis ablehnend verhalten sich auch die "alten", gewerkschaftsnahen Demokraten. Eindeutig stark für den Freihandel machen sich Clintons "neue" und zentristische "Dritte-Weg"-Demokraten sowie etwas mehr als die Hälfte der Republikaner.Von politischer Bedeutung sind die Proteste in Seattle für die US-Linke, für das Kräfteverhältnis bei den Demokraten und im AFL-CIO allemal. Freihandel und Globalisierung werden mit Sicherheit zu Themen bei den Präsidentschaftswahlen, und Al Gore, aussichtsreicher Kandidat der Demokraten, wird von der Gewerkschaftsspitze offiziell unterstützt. In einem Brief an den Präsidenten hatte das Advisory Committee for Trade Policy and Negotiations, dem US-Multis, NGO, die US-Handelskammer und auch der AFL-CIO angehören, der US-Regierung Ende Oktober seine Unterstützung bei den WTO-Verhandlungen zugesagt. Das Schreiben ist von AFL-CIO-Chef John Swee ney mit unterzeichnet und erklärt die US-Position für "kühn, angebracht und umfassend". Die WTO, heißt es, sei "das richtige Forum zur Ausweitung neuer Handelschancen, um Handelsschranken abzubauen und bestehende Handelsabkommen durch ein eindeutiges Regelsystem umzusetzen". Dass diese Haltung der Linken, regionalen Industrie-Gewerkschaften und Basisaktivisten große Bauchschmerzen bereitet, ist deshalb keine Überaschung. Al Gore, das Lieblingskind der AFL-CIO-Spitze, ist ein neoliberaler US-Nationalist sondergleichen und hatte schon 1994 angekündigt, "die USA werden kein einziges Gesetz ändern, nur weil die WTO es will". Er bietet sich Freihandels-Gegnern also als eine ausgezeichnete Partie an. Und so manche Gewerkschaften in Seattle dagegen denken auf Druck der AFL-CIO jetzt daran, ihre Teilnahme an den Protesten so klein wie möglich zu halten.
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