Jemandem "die Füße brechen", das heißt im Handke-Deutsch soviel wie jemandem auf die Nerven fallen. Synonyme dafür lauten: jemandem "die Bonbons" oder "dieWeih rauchfläschchen brechen". Peter Handke hat schon vielen seiner Leser und Kritiker die Füße oder die Bonbons gebrochen, und für Kritiker ist es besonders schlimm, sie sind förmlich aus dem Tritt gebracht, wenn der notorische Konsens-Verderber ihnen die Kategorien schändet.
Ich bin aber einer, der "es nicht kalt an der Nase hat" (das heißt "furchtlos sein", Handke-Deutsch), und so tue ich mir auch keinen Zwang an, wenn ich über des Dichters neuestes Werk in der gebotenen Kürze ein Dingsbums verfasse, mit allem dafür erforderlichen detektivischen Spürsinn. Lucie im Wald mit den Dingsda nennt sich das gute Stück rätselhaft und vielversprechend, und bald ist klar: ein Märchen ist's, genauer gesagt eine Paraphrase des Märchens von "Rotkäppchen und dem bösen Wolf". Wobei auch einige andere Märchenmotive hineinspielen, am Schluss treten zum Beispiel zwei Könige auf, ein echter und ein falscher, den falschen erkennt Lucie/Rotkäppchen an Krone und Brokatmantel, den echten jedoch an seiner Vorliebe für Dingsda. Die hat Rotkäppchen im Wald gefunden, es bringt sie dem echten König, um ihn zu bestechen, denn Rotkäppchens beziehungsweise Lucies Vater sitzt wegen Hochverrats im Gefängnis und ist schon zum Tode verurteilt...
Lucie im Wald mit den Dingsda ist ein subversives Buch; man merkt es nicht erst daran, dass der echte König im Keller residiert (Untergrund!) und den Verräter natürlich großzügig durch die Finger sehend begnadigt (Dingsda-Freaks unter sich!), sondern auch schon an der Anspielung auf den Beatles-Song "Lucy in the sky with diamonds", bekanntlich eine leicht chiffrierte Umschreibung für LSD. Fast unverblümt macht der staats- und sittenfeindliche Dichter Handke in seinem neuen Buch Reklame für Hallozinogene, denn die Dingsda sind ihrerseits eine Chiffre für Rausch- und Betäubungsmittel, die man im Wald findet - magic mushrooms -, und mit denen unser Märchenerzähler sich sehr gut auszukennen scheint.
Der böse Wolf, das ist natürlich der Dichter selbst in einer seiner Lieblingsmasken, und das unschuldige Rotkäppchen, das ist eine leicht durchschaubare Allegorie der öffentlichen Meinung. Die wird vom bösen Wolf mächtig gereizt (es steckt auch eine gewisse Sexualsymbolik dahinter), schließlich frisst der Übeltäter die kranke Großmutter, den politischen guten Willen nämlich, legt sich selbst ins Bett und verschluckt mit seinem gierigen Maul und seinen scharfen Zähnen auch noch die öffentliche Meinung. Dann aber erscheinen die braven Wortführer des Feuilletons, schneiden dem bösen Wolf den Wanst auf, holen die öffentliche Meinung unversehrt und ganz und gar jungfräulich wieder heraus und tun stattdessen Wackersteine hinein.
Der Wolf ist offenbar nicht in den Brunnen gefallen, den er längst vergiftet hat, sondern verfasst - nach sicherlich ausgiebigem Genuß von Hallimasch, Cantarella, Rotkappen etcetera - psychedelische Lügenmärchen, in denen er so unhaltbare Behauptungen aufstellt wie die, die Todesstrafe sei "für sämtliche Länder dieser Erde" mit sofortiger Wirkung abgeschafft. (Nur weil man ihn nicht in den Brunnen gestürzt hat!) Der Suhrkamp Verlag aber sollte sich langsam einmal ernsthaft fragen, ob er es mit seiner libertär-rationalistischen Grundordnung weiterhin vereinbaren kann, sogenannte Dichter in sein Programm zu nehmen, die unser aller deutsches Rotkäppchen mit den perfidesten rhetorischen Tricks auf die Holzwege ihres abartigen und haltlos berauschten Denkens locken wollen!
Peter Handke: Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 90 S., 28,- DM
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.