Petra Kellys Zahnarzt

Politische Auslaufmodelle Statt mit vorwärtsweisenden Beiträgen zu glänzen, tätigen die Museumswärter deutscher Politik zweifelhafte Aussagen
Ausgabe 45/2015

SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine hütet ein Geheimnis: In den nicht veröffentlichten Umfragen liege die SPD bei 40 Prozent. Zumindest an Optimismus lässt der Saarländer sich eben von niemandem übertreffen. Aber wer weiß: Vielleicht bringt die Reise von Willy Brandt in den Irak die große Stimmungswende zugunsten der Sozialdemokraten? Das nötige Selbstbewusstsein hat der SPD-Ehrenvorsitzende jedenfalls. „Was heißt hier Privatperson - ich bin Willy Brandt, man kennt mich in der Welt“, beschied er knapp Journalisten, nachdem er keinen offiziellen UNO-Auftrag für seine Gespräche in Bagdad erhalten hatte. „Vielleicht sollten wir ihn noch schnell zum Kanzlerkandidaten machen“, grübelten ratlose Wahlkampfstrategen im SPD-Hauptquartier angesichts der medienwirksamen Auftritte Brandts.

Das schafft Raum für andere Themen, mag sich Petra Kelly gedacht haben, als sie zu ihrer wohl letzten Pressekonferenz als Bundestagsabgeordnete der Grünen über „Amalgam - die Zeitbombe im Mund“ lud. Die beängstigenden Ausführungen eines Münchener Zahnarztes im Fraktionssaal der Grünen hatten zwei Höhepunkte: Die Demonstration der Leiden einer mitgebrachten Patientin („Frau Meier, zeigen Sie doch mal Ihre Glatze" worauf die ältere Dame sich genötigt sah, ihre Mütze samt Kunsthaar zu lüpfen). Und die Präsentation der Gasmaske, mit der Dentisten künftig nach Ansicht ihres Kollegen wegen der aus den Gebissen der Patienten aufsteigenden Giftdämpfe zu Werke gehen müssten.

In der Fraktion der Grünen kursierte später eine fiktive Pressemitteilung, in der die Frage beantwortet wurde, weshalb Frau Kelly zwei Legislaturperioden lang ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs lebte: „Das Quecksilber ist schuld", habe ein tibetischer Zahnwissenschaftler herausgefunden. Solcher Bosheiten aus dem Kreis der Kelly-geschädigten MitarbeiterInnen der Fraktion bedarf es künftig nicht mehr: Sie hat den Anlauf zur dritten Wiederkehr in den Bundestag nicht geschafft, obwohl sie doch „das richtige Formblatt“ zur Anmeldung ihrer Kandidatur rechtzeitig an den Grünen-Kreisverband geschickt habe, wie sie per Pressemitteilung in Bonn wissen ließ. Doch auch der Umweg über die Liste in Sachsen-Anhalt erwies sich als Sackgasse: Ein Lokalmatador setzte sich gegen Petra Kelly bei der Abstimmung durch. Und so verabschiedet sich eben jede so gut sie kann.

Auch anderswo gibt es politische Auslaufmodelle. Dorothee Wims, zum Beispiel. DER Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, wie die CDU-Politikerin sich allen Bestrebungen zur sprachlichen Gleichstellung zum Trotze nennen lässt. In diesem Jahr, in dem es nun wirklich darum ging, innerdeutsche Beziehungen zu entwickeln, zeigte das in der ungebrochenen Tradition des Kalten Krieges stehende Ministerium seine ganze Politik-Unfähigkeit. Selbst in Unionskreisen heißt es, es sei nicht ein vorwärtsweisender Beitrag zur Bewältigung der Einheitsprobleme aus dem Hause Wilms gekommen – dem das Magazin der Süddeutschen Zeitung den Titel „Museum für innerdeutsche Beziehungen“ verlieh. Das hindert die führenden Museumswärter aber nicht, sich weiter mit bemerkenswerten Äußerungen zu Worte zu melden: Die PDS-Politiker Modrow und Gysi sollten nun bald der „politischen Endlagerstätte für verseuchte Altlasten“ zugeführt werden, empfahl Staatssekretär Ottfried Hennig mit allem christlich-demokratischen Anstand.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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