Pflegekräfte wissen, wie Streiken geht

Arbeitskampf Warum wehren sie sich nicht? Wer so argumentiert, hat keine Ahnung von der Realität
Ausgabe 23/2021
Doch, sie können: Demonstration vom Berliner Bündnis „Gesundheit statt Profite“
Doch, sie können: Demonstration vom Berliner Bündnis „Gesundheit statt Profite“

Foto: IPON/IMAGO

In der Zeit erschien neulich ein Kommentar, der beispielhaft dafür ist, wie viele Journalist*innen über Arbeiter*innen berichten: Charlotte Parnack befand in dem Artikel Sie wehren sich nicht, dass Pflegekräfte eine Mitschuld an ihrer miserablen Situation trügen, sie würden sich „selbst verzwergen“ und sollten sich „endlich politisch organisieren“. Das ist gleich doppelt ignorant.

Wer bloß von außen kommentiert, dass eine Berufsgruppe endlich kämpfen soll, ohne sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, warum das nicht passiert, hat wohl noch nie einen Arbeitskampf geführt und weiß nicht, wie schwer es ist, sich zu organisieren, die Interessen der Kolleg*innen für gemeinsame Forderungen unter einen Hut zu bringen, den nötigen Druck aufzubauen und dann durchzuhalten. Das ist für Pflegekräfte, die ihre Patienten dann im Zweifelsfall nicht versorgen können, ungleich schwerer als für Arbeiter*innen am Fließband oder für Journalist*innen. Es ist aber auch ignorant, weil es seit vielen Jahren vitale Kämpfe gut organisierter Pflegekräfte gibt. Dafür hätte Frau Parnack nur nach Hamburg, Essen, Düsseldorf, Jena oder aktuell nach Berlin schauen müssen.

Bereits 2015 gab es in der Hauptstadt einen Arbeitskampf, der zum Vorbild für die oben genannten Städte wurde: die Beschäftigten der kommunalen Charité erkämpften erstmals einen Tarifvertrag mit Regelungen für Personalbemessungen, um Berufsbelastungen und Ausfälle festzuhalten und auch auszugleichen. Dieses Jahr kämpfen sie erneut, gemeinsam mit Kolleg*innen der Berliner Vivantes-Krankenhäuser und den privatisierten, ausgegliederten Tochterfirmen. Mitte Mai haben sie der Berliner Politik eine Petition mit ihren Forderungen übergeben. Diese Petition ist Ausdruck ihrer organisatorischen Stärke: Hinter jeder Unterschrift steht eine Pflegearbeiter*in, die bereit ist, in den Streik zu treten und selbst aktiv zu werden. Hier sprechen nicht Gewerkschaftsfunktionäre hinter verschlossenen Türen für Pflegekräfte, diese kämpfen für sich selbst. Für die in Berlin verantwortliche Politik läuft seitdem ein 100-Tage-Ultimatum: wenn es bis dahin keinen neuen Tarifvertrag gibt, treten sie noch vor den Abgeordnetenhauswahlen im September in den Streik. Bis dahin haben sie aber noch einiges geplant: derzeit sind sie in allen Bezirken der Hauptstadt sichtbar, gemeinsam mit politischen Verbündeten.

Statt von außen Pflegekräften „Selbstverzwergung“ vorzuwerfen, könnte man in den nächsten Wochen gut bei den zahlreichen Aktionen der Berliner Krankenhausbewegung vorbeischauen und sie unterstützen – hilft übrigens auch mehr als Klatschen!

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