Sollen die Sozialsysteme aus Steuern finanziert werden? Beitragsfinanzierte Sozialsysteme (wie das deutsche Gesundheitssystem) geraten unter Druck, denn die Erwerbsbevölkerung ist immer weniger in der Lage, die steigenden Kosten zu finanzieren. Steuerfinanzierung heißt nun das Rezept, das in einem ersten Schritt mit der jüngsten Gesundheitsreform angegangen wird: Die Gesundheitsausgaben der Kinder werden ausgelagert. Doch Steuerfinanzierung hat Nachteile. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hält sie sogar für eine komplette Fehlorientierung. Da irrt er sich, widerspricht ihm der Volkswirtschaftler Gert G. Wagner, denn die Steuerfinanzierung könnte verteilungs- und arbeitsmarktpolitisch sinnvoll sein - vorausgesetzt, man gestaltet den Umbau richtig
ichtig. Es ist hochinteressant, dass ein linker Politikwissenschaftler wie Christoph Butterwegge die langjährigen Bestrebungen für mehr Steuerfinanzierung der Sozialen Sicherung kritisiert. Denn die Linke hat seit Jahrzehnten immer wieder mit guten Gründen Vorschläge für eine stärkere Steuerfinanzierung gemacht. Sie konnte sich aber nie durchsetzen. Und ausgerechnet jetzt, wo sogar der Bundespräsident dieses Ziel unterstützt, kritisiert Butterwegge es. Letztlich ist dies nur ein weiteres Zeichen für die Verwirrung, die die Debatte um mehr Steuerfinanzierung schon immer ausgelöst hat. Das kann man auch bei Butterwege selbst gut erkennen: nachdem er an der indirekt wirkenden Mehrwertsteuer kein gutes Haar gelassen hat, schlägt er unter dem Etikett "Maschinensteuer" eine Wertschöpfungs-Abgabe vor. Gegen diese sprechen aber alle Argumente, die Butterwege zuvor gegen die Steuerfinanzierung angeführt hat. Offenbar lohnt es sich zu versuchen, die Debatte zu entwirren.Um was geht es? Während Liberale mit Hilfe der Steuerfinanzierung das Niveau der Sozialen Sicherung auf ein Basisniveau absenken wollen, streben linksorientierte Politiker und Fachleute mit der Steuerfinanzierung zuerst einmal mehr Verteilungsgerechtigkeit an. Diese kann durch die mit einer Steuerfinanzierung im Vergleich zu an den Löhnen bemessenen Beiträgen breiten Finanzgrundlage erreicht werden. Und zum zweiten ist bei einer Steuerfinanzierung eine bessere "Feinsteuerung" der Leistungen möglich, da zum Beispiel Vermögende nicht versorgt werden müssen. Darüber hinaus wollen alle Befürworter durch eine Steuerfinanzierung positive Arbeitsmarkteffekte erzielen, da die Abgabenlast auf Löhne gesenkt würde.Die Arbeitsmarktwirkungen einer steuerfinanzierten Umfinanzierung der sozialen Sicherung, so wie sie eher Linksorientierte anstreben, wären insgesamt freilich gering, da die Leistungen und damit die Abgabenlast gesamtwirtschaftlich ja gleich bliebe. Nach wie vor würden die Kosten der Sozialen Sicherung - wenn auch etwas verteilt - letztlich von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden. Aber - und dies Argument steht heute im Vordergrund: im unteren Einkommensbereich würden neue Arbeitsplätze entstehen, da diese bei einer Steuerfinanzierung massiv entlastet würden. Denn heute werden untere Lohneinkommen - sofern sie nicht unterhalb der Minijob-Grenze von gegenwärtig 400 Euro liegen - von Sozialabgaben stark belastet und dadurch können derartige Arbeitsplätze für Arbeitgeber (wegen der hohen Lohnkosten) und Arbeitnehmer (wegen niedriger Nettolöhne) unattraktiv werden. Bessere Jobchancen für niedrig Qualifizierte sind die ernsthafte Anstrengung einer Umfinanzierung wert.Aber: eine Steuerfinanzierung bedeutet in der Tat, da hat Butterwegge recht, dass faktisch der Finanzminister direkt über das Sicherungsniveau mitentscheiden würde. Bei knappen Kassen ist es nicht unwahrscheinlich, dass er - gleich welche politische Farbe er trägt - Druck auf das Niveau der sozialen Sicherung ausübt, um Geld zu sparen und seinen Haushalt in der Balance zu halten. Deswegen muss in der Tat geprüft werden, wie die "Nachhaltigkeit" einer steuerfinanzierten Sozialen Sicherung erreicht werden könnte.Eine Steuerfinanzierung bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Finanzminister - wie Butterwegge behauptet - jedes Jahr neu entscheidet, wie hoch das Sicherungsniveau sein darf. Vielmehr kann die Steuerfinanzierung in ein Leistungsgesetz geschrieben werden, das auch nur entsprechend qualifiziert parlamentarisch änderbar ist. Das Wohngeld mag ein gutes Beispiel sein, denn es zeigt, dass auch ein weiteres Argument aus Butterwegges Contra-Liste nicht zwangsläufig gilt, nämlich Stigmatisierung durch den Bezug einer steuerfinanzierten Leistung. In Skandinavien, mit seiner langen Tradition staatlicher Sozialleistungen, kann man dieses Argument gar nicht nachvollziehen.Zentral ist: Die Steuerfinanzierung kann - und muss - im Detail so gestaltet werden, dass es politisch schwer ist, sie zu kürzen. Eine solche Ausgestaltung liegt auch sachlich auf der Hand: nämlich eine gezielte steuerfinanzierte Förderung von Kindern und Familien. Die Familienleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bieten sich förmlich dafür an (je nach Berechnung sind das 16 bis 24 Milliarden Euro pro Jahr).Man kann zudem - wie in Frankreich - eine eigene Familienkasse etablieren, in die der Finanzminister neben den Beitragszahlern einzahlt. Eine solche Kasse sollte als Parafiskus ausgestaltet werden, das heißt, mit einer Selbstverwaltung. Diese würde bei Kürzungsdiskussionen im politischen Prozess ihre vernehmliche Stimme erheben.Statt eines konventionellen Beitrags könnten die Arbeitgeber ihren Anteil für eine Familienkasse in Form einer "Wertschöpfungsabgabe" leisten. Was Butterwegge allerdings übersieht, ist, dass eine solche Abgabe auch nicht anders wirkt als die von ihm gescholtene Mehrwertsteuer. Beide Abgaben werden bei den Produzenten erhoben, die diese Kosten - soweit es geht - auf die Preise aufschlagen und damit auf die Konsumenten abwälzen. Wegen der im Vergleich zur Lohnsumme breiteten Bemessungsgrundlage ist eine Wertschöpfungssteuer beziehungsweise eine Mehrwertsteuer als Grundlage der sozialen Sicherung sinnvoll - aber die Wertschöpfungssteuer ist natürlich genauso einem eventuellen Steuersenkungsdruck ausgesetzt wie jede andere Steuer auch. Man kann das trotzdem riskieren, wenn die Gesamtwirkungen einer Umfinanzierung positiv sind.Ein gezielter Einsatz von mehr Steuerfinanzierung dürfte verteilungs- und arbeitsmarktpolitisch sinnvoll sein. Notwendig ist es, Phantasie und Gestaltungswillen für die politische Ökonomie der Nachhaltigkeit steuerfinanzierter Sozialleistungen zu entwickeln. Die Familienleistungen der GKV bieten sich dafür an. Kaum ein Politiker dürfte sich an Kürzungen herantrauen, und wir könnten einüben, wie wir als Gesellschaft vernünftig mit mehr Steuerfinanzierung umgehen.Gert G. Wagner ist Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin und Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Unter seinem Vorsitz entstand die Denkschrift der EKD zur Armut in Deutschland (siehe Freitag 29).