Philosoph Andreas Urs Sommer: „Wir brauchen die Drohmacht der Bürger“
Interview Der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer fordert mehr Mut zu direkter Demokratie. Nur, wenn alle Bürger*innen als mündig und entscheidungsbefugt wahr- und ernstgenommen werden, kann eine Gesellschaft Zeiten wie diese überstehen
Der Philosoph Andreas Urs Sommer: „Wir sollen mündig sein, zugleich dürfen wir nicht entscheiden“
Foto: Alex Dietrich
Autoritäre politische Systeme gewinnen weltweit an Bedeutung. Für den in der Schweiz mit ihrer semi-direkten Demokratie groß geworden Andreas Urs Sommer hat die Schwäche der westlichen Demokratie aber auch innere Gründe.
der Freitag: Herr Sommer, in Ihrem aktuellen Buch „Entscheide dich! Der Krieg und die Demokratie“ sagen Sie, unsere liberale Demokratie müsse sich so attraktiv machen, „dass es selbst auf die Untertanen eines siegreichen autoritären Systems unwiderstehlich wirkt, sie an ihrer Untertanenschaft zweifeln und schließlich überlaufen lässt“. Verlockt die deutsche Demokratie bereits genügend zum Überlaufen?
Andreas Urs Sommer: Das Verlockungspotenzial unserer Demokratie ist steigerbar. Derzeit schei
Verlockungspotenzial unserer Demokratie ist steigerbar. Derzeit scheint es eher das Wohlstands- als das Demokratieniveau, das anziehend wirkt. Der Krieg ist aber etwas, was uns dazu herausfordert, unsere Demokratie neu zu gestalten.Sie plädieren ja für die direkte Demokratie. Bisher sei sie nur „halb fertig“. Warum muss sich das System verändern?Wir befinden uns in einer merkwürdigen politischen Zwischenlage. Auf der einen Seite traut man uns als Bürgerinnen und Bürgern absolute Mündigkeit und Entscheidungskompetenz zu. Wir sind seit der Aufklärung nach und nach so sozialisiert worden, dass wir selber die Individuen sein sollen, die über politische Fragen ganz allein und nur im Gebrauch unserer eigenen Vernunft entscheiden müssen. Auf der anderen Seite traut man uns ganz offensichtlich nicht zu, die politischen Entscheidungen zu fällen, die das Gemeinwesen im Ganzen angehen. Sondern man erwartet von uns, dass wir irgendjemanden delegieren, eine Stellvertretung installieren, die für uns agiert. Nur alle paar Jahre haben wir mal die Gelegenheit, diese unsere „Vertreter“ für die Parlamente zu bestimmen. Daher lautet meine These: Es ist nötig, unserer eigenen Mündigkeit zu politischem Nachdruck zu verhelfen, indem wir politische Entscheiderinnen und Entscheider werden.Aber das repräsentative System ist doch dazu da, gute Entscheidungen zu treffen, zu denen die etwas eigensüchtigen Bürger selbst nicht imstande sind.Dieses repräsentative System bildet eine Art Bollwerk gegen die „Herrschaft des Pöbels“, der „viel zu vielen“. Es ist eine typische Erfindung des 18. Jahrhunderts. Das System setzt auf Stellvertretung, es ist unserem politischen Bewusstsein und unserer Mündigkeit nicht angemessen. Was so gerne als Politikmüdigkeit beschrieben wird, scheint mir wesentlich eine Repräsentationsmüdigkeit zu sein. Wir beschäftigen uns mit allen möglichen Fragen, die Nachrichten sind jeden Tag voll, aber am Ende entscheiden andere darüber. Dessen müde zu werden, ist nur natürlich.Was ist dann das Ziel der Demokratie, wenn nicht der gewaltlose Austausch der Herrscher?Demokratie ist diejenige Staatsform, in der möglichst viele den gemeinsamen politischen Raum gestalten. Dies an Dritte zu delegieren, kann nur situativ greifen. Sie könnten zwar sagen, im Bereich der Rüstungspolitik fühlen Sie sich selbst nicht kompetent, deshalb möchten Sie Ihre Stimme in Rüstungsfragen an die kompetente Nachbarin abgeben. Aber prinzipiell entzieht sich die Gestaltung des politischen Raumes, in dem wir leben, der Delegation.Ihre Position wird regelmäßig als praktisch unmöglich abgetan. Nur über Repräsentation seien die vielen komplizierten Fragen zu bearbeiten.Wenn Sie sich semi-direkte Demokratien wie die Schweiz ansehen, werden Sie feststellen, dass es sehr wohl für einige Abstimmungswochenenden im Jahr möglich ist, die nötige Anzahl von Stimmzetteln zu drucken oder das Ganze digital aufzugleisen. Technisch ist es überhaupt kein Problem, anstatt vier Millionen Stimmzetteln 60 Millionen zu drucken und zu verschicken. Die Vorstellung, dass gewählte Repräsentanten entscheiden müssen, ist keine geoffenbarte Wahrheit. Das Repräsentationsmodell ist der historisch einst berechtigte Kompromiss zwischen oligarchisch-aristokratischeren Regierungsformen und einer Radikaldemokratie, in der womöglich tatsächlich die Mehrheit die Minderheit tyrannisiert.Also permanent Volksabstimmungen zu allen Fragen?Nein, ich will doch nicht die Parlamente abschaffen. Aber wir brauchen die Drohmacht der Bürgerinnen und Bürger als Entscheider. Parlamentarier diskutieren und beschließen ein Gesetz, aber sie müssen immer damit rechnen, dass ein paar Leute nicht damit einverstanden sind und dann genügend Stimmen sammeln, um eine Abstimmung der Bürger über dieses Gesetz herbeizuführen. Oder ganz andere Ideen haben und gegen parlamentarische Trägheit eine Initiative lancieren.Schreit dieser Ansatz nicht geradezu danach, noch deutlicher die Machtfrage zu stellen? Der Blick in unsere Menschheitsgeschichte zeigt eine fortwährende Abfolge von Herrschaftskämpfen. Und doch gilt heute Herrschaftskritik in der Demokratie mindestens als Schwurbelei, wenn nicht gar als Verfassungsfeindlichkeit. Dem liegt vermutlich die mir sehr rätselhafte Weltsicht zugrunde, früher sei zwar tatsächlich vieles schlecht gewesen, doch heute lebten wir im bestmöglichen aller Systeme.Natürlich ist die Ängstlichkeit, über Grundlegendes im politischen Gefüge zu reden, in der Bundesrepublik Deutschland aus historischen Gründen besonders groß, sodass es dann gleich heißt, wenn man mal eine spinnert anmutende Idee äußert, sie bedrohe die sogenannte freiheitlich-demokratische Grundordnung. Da würde ich zu mehr Gelassenheit raten, offen sein für Experimentelles. Andererseits bin ich optimistisch, was die Wandlungsfähigkeit dieser Demokratie angeht. Auch mit den von einer Ewigkeitsklausel geschützten Fundamenten des Grundgesetzes wären bundesweite Volksentscheide vereinbar. Es sieht solche in Artikel 20 (2) sogar vor.Und Sie haben keine Angst, dass Populismus und antidemokratische Strömungen sich das Experiment zunutze machen könnten?Unser politisches System ist so gefestigt, dass gerade jetzt auch Möglichkeiten der Veränderung gegeben sind. Man kann quasi von sicherem Boden aus Neues erproben. Die Bürgerräte sind so etwas. Wichtig dabei ist, dass Partizipation kein einmaliges Ereignis sein darf, in das man dann alles Mögliche hineinprojiziert, denken Sie an den Brexit, denken Sie an Stuttgart 21. Wenn Bürger nur alle 20 Jahre mal in der Sache entscheiden dürfen, dann wird in dem Moment über alles Mögliche abgestimmt, nur nicht über das, was eigentlich zur Abstimmung steht.Sie sind klipp und klar für den Volksentscheid und sagen, nur das sei direkte Demokratie: wenn alle über alles entscheiden. Ich dagegen werbe für aleatorische Demokratie, bei der jeweils nur einige Hundert ausgeloste Bürger ein Thema beraten und dieses entscheiden, und ich halte das auch für direkte Demokratie. Denn es gibt keine Mittelsleute, sondern einen „Mini-Populus“, eine Stichprobe der entscheidungsberechtigten Bevölkerung, die die Gesamtheit widerspiegelt.Wir sind Wesen, die teilhaben wollen. Wir möchten an Erwägungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt sein, das macht uns aus. Bei aleatorischen Varianten haben wir wieder einen sehr eingeschränkten Entscheiderkreis und damit das gleiche Problem wie bei der repräsentativen Demokratie. Die Beratung wäre abgeladen bei den „Happy Few“, die ausgelost sind, die intensive Zeit miteinander verbringen und dann besser informiert sind als ich. Der demokratische Prozess wäre wieder delegiert, und ich bin in meiner Mündigkeit nicht ernst genommen. Ich bezweifle auch das Argument der Ressourcensparsamkeit. Wir sollten das Politische nicht nur in der Entscheidung sehen, sondern vor allen Dingen im Prozess der Entscheidungsfindung. Im schweizerischen Kontext habe ich oft beobachtet, dass Leute zu Beginn einer Abstimmungskampagne eine andere Position vertreten haben als dann am Tag der Entscheidung. Dieser lange Deliberationsprozess erscheint mir sehr wichtig. Warum sollten wir darauf verzichten und ihn den „Happy Few“ überlassen?Mit aleatorischen Verfahren kann man über Themen entscheiden lassen, die viel zu klein, zu komplex oder sonst irgendwie ungeeignet für eine Volksabstimmung sind. Fragen, zu denen die meisten Menschen keine Meinung haben, für die sie sich auch gar nicht interessieren, irgendein Unterkapitel im Denkmalschutz oder eine Detailänderung im Steuerrecht. Damit will sich „der politische Raum“ nicht beschäftigen. Aber die Ausgelosten müssten es halt. Was spricht dagegen?Dagegen spricht gar nichts. Hingegen über ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema engagiert zu diskutieren, aber am Ende nicht mit abstimmen zu können, soweit ich nicht zufällig einer der Ausgelosten bin, ist unbefriedigend. Überall da, wo ich mich einbringen will als Mitentscheider, soll ich mich auch einbringen können. Dass ich dann manche Dinge wie ein zu novellierendes Denkmalschutzgesetz für wenig relevant halte, stört nicht. Natürlich sieht man das bei den Abstimmungen in der Schweiz.Damit haben wir aber eine Selektion, die zu starken Verzerrungen führt. Die Denkmalschützer bekommen ihr gewünschtes Gesetz, weil sie alle zur Abstimmung gehen, während die meisten, die davon später mal irgendwie negativ betroffen sein könnten, zu Hause bleiben.Ja, das ist eine Verzerrung, aber sie ist in Ordnung. Ich würde in jedem Fall von Abstimmungspflichten Abstand nehmen, denn dann wird einfach irgendwas entschieden. Nein, wir haben unbedingt das Recht, uns in bestimmten Fällen überhaupt nicht zu verhalten. Und wer prinzipiell die Gestaltung des politischen Raums anderen überlassen will, darf das tun.Aber damit fallen alle Themen durch, bei denen sich nicht genügend Menschen an der Abstimmung beteiligen. Können wir da nicht wenigstens für heute einen Kompromiss hinbekommen? Wir führen jetzt – gedanklich – die Volksabstimmung in Deutschland ein. Alles, was das nötige Quorum nicht erreicht, landet automatisch in gelosten Gremien.Diesen Kompromiss könnte ich eingehen. Er scheint mir pragmatisch sinnvoll zu sein.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1