Plastik-Pop

A–Z Rick Astley ist zurück. Man kann das als Schicksalsschlag betrachten. Kann aber auch Schuldige benennen. Damit Geschichte sich nicht wiederholt
Ausgabe 29/2018

A

Antifeminismus Wie die schon aussah: aufgepumpter Busen, schon beim Anblick fast reißender BH, Schmollmund, Schlafzimmerblick. Und dann singt sie auch noch. „Boys, boys, boys, I’m looking for a good time, hey, nehmt mich, könnt mich haben, nur Spaß!“ Sabrina degradierte sich selber zum reinen Sexobjekt (➝ Männerfantasie), so hätten es damals sicher Feministinnen im Westen gesehen. Ich stand 1987 in der Freiluftdisco in unserem Kinderferienlager in Bad Saarow. Und wartete auf Michael Jackson. Es kam Sabrina. Alle Jungs, die vorher mehr so am Rand standen, stürmten auf die Tanzfläche. Mein kleiner Bruder! Ich rannte ihm nach: Wie kannst du zu so einem frauenfeindlichen Song tanzen, bei der geht’s doch nur ums Äußere. „Ja genau, sieht cool aus“, rief er und tanzte weiter. Zu Hause spielte ich ihm ganz andere Sachen vor. Es war, als hätte er mich persönlich beleidigt. Maxi Leinkauf

B

Band Aid II Charity ist schlimm, denn, wie Johann Heinrich Pestalozzi gesagt haben soll: „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“ Aber Charity-Lieder sind schlimmer, sie sind enervierende Ohrwürmer, die aus sämtlichen in Supermärkten oder auf öffentlichen Toiletten angebrachten Lautsprechern kriechen und damit im Gegensatz zu ihrem eigentlichen Anspruch die Welt ein gutes Stückchen schlechter machen. Bestes Beispiel: der von Stock Aitken Waterman produzierte Song Do They Know It’s Christmas? für das Projekt Band Aid II, das aus Chris Rea, Kyle Minogue (➝ Neighbours), Cliff Richard und weiteren, heute zum Glück vergessenen Musikern zusammengewürfelt wurde.

1989 sangen die Millionäre gegen den Hunger in Äthiopien an – allerdings mit mäßigem Erfolg. Nur in England erklomm die Neuauflage des Charity-Hits von 1984 die Chartsspitze. Noch geschmackloser als das Lied ist allerdings das Musikvideo: Abwechselnd gezeigt werden Elendsbilder aus Äthiopien und fröhliche Sängerinnen und Sänger im Tonstudio. Muss sich toll anfühlen, so viel Gutes zu tun. Wolfgang M. Schmitt

Breaking the Law Was Judas Priest in dieser Liste machen? Die Antwort darauf wird Sie verstören. Denn die Metal-Legende aus Birmingham suchte tatsächlich die Zusammenarbeit mit den Plastik-Pop-Produzenten Stock Aitken Waterman. Ausgerechnet diese sollten den Unmut der Fans wieder beschwichtigen. Denn nach zehn Erfolgsjahren als Wegbereiter des britischen Heavy Metal hatten Judas Priest den Einsatz von Gitarrensynthesizern gewagt. Die aber waren für den Pop reserviert. Überhaupt klang die Scheibe Turbo (1986) nicht nach pressendem Vorwärtsgang, sondern Richtungslosigkeit, wie Kritiker bemängelten.

Die frenetische Begeisterung, die sie sich seit British Steel (1980) erspielt hatten, drohte zu verebben. Man vergleiche nur die Titeltracks der beiden Alben: Gegen den All-Time Favourite „Breaking the Law“ wirkt „Turbo Lover“ wie ein weinerliches Wiegenlied. Warum man sich nun hilfesuchend an die Blassmusikproduzenten (➝ Erfolgsrezept) wandte, ist ein Rätsel. Man schrieb drei nie veröffentlichte Songs zusammen. Vielleicht merkte die Band bei der Kooperation, dass Hochglanz und Metal nur bedingt zusammenpassen? Mit Painkiller (1990) katapultierte sie sich dann auf die alte Spur der Blutige-Nasen-Musik zurück. Übrigens spielte Priest-Gitarrist Glenn Tipton für Samantha Fox’ Spirit of America ein Solo ein (➝ Männerfantasie). Tobias Prüwer

E

Erfolgsrezept Für fließbandartige Hitproduktion sind viele bekannt. Stock Aitken Waterman trieben das System auf die Spitze. Ihr Rezept? Das Immergleiche ans Konsumentenohr bringen, um den von der unübersichtlichen Welt überforderten Hörer in einen Zustand heiterer Dauertrance zu versetzen: Man nehme seltsam dumpfe Drums (➝ Linn), breite einen Teppich von Synth-Blechbläsern großflächig darauf aus. Nun hole man einen möglichst durchschnittlichen Sänger ins Studio. „Sam (➝ Männerfantasie), worüber möchtest du singen?“ „Hm, nichts kann mich aufhalten!“ „Perfekt! Nothing’s gonna stop me now.“ Ganze Alben sollen so in unter einer Stunde komponiert worden sein. Während heutige Chartsstürmer talentiert sind UND gut aussehen UND tanzen können, reichte Kylie Minogue (➝ Resilienz) ein enger Minirock. Ach ja: UND eine Dauerwelle. Marlen Hobrak

L

Linn Coole Rechner heißen HAl 9000, wie der in Kubricks 2001. Coole Drumcomputer heißen Doktor Avalanche, wie der, den die Sisters of Mercy benutzten. Wer Musik vom Fließband macht, dessen Drumcomputer heißt nach der Firma, die ihn am Fließband zusammenlöten lässt. Statt eines Namens stand in den Liner Notes zu Stock-Aitken-Waterman-Produktionen hinter „Drums“ meist „A Linn“. Der Linn 9000 von Linn Electronics kostete 1984 um die 7.000 $, was heute 15.000 € wären. Hat sich gerechnet, die Investition. (➝ Erfolgsrezept) Mladen Gladić

M

Männerfantasie Samantha Karen Patricia Fox hat Musikgeschichte geschrieben. Okay, stimmt nicht. Aber in den 80ern war sie sehr bekannt. Mit nur 16 Jahren zog sie für die britische Sun blank und mit Nothing’s gonna stop me now und Touch me eroberte sie die Charts. Harald Schmidt ging ihr 1997 in seiner Show an die Möpse. Obwohl sie schon als Teenager eher auf Frauen steht, baut sie ihre Karriere auf Männerfantasien (➝ Antifeminismus) auf und outet sich erst 2003 öffentlich. Nach dem letzten Album 2005 wurde es ruhiger um das einstige Sexsymbol. Fox (Foto) zog wie viele vor und nach ihr ins Dschungelcamp und bei Big Brother ein. Im letzten Jahr ergatterte sie eine Nebenrolle im Trash-Streifen Sharknado 5: Global Swarming. Elke Allenstein

N

Neighbours Ich saß in unserer Plattenbauwohnung in Berlin-Lichtenberg, es muss 1989 gewesen sein. Nach der Schule schaltete ich den Fernseher ein. Westfernsehen. Da lief Nachbarn (Neighbours), meine erste Seifenoper. Sie spielte in Australien, ziemlich lässig. Normale Leute in Karohemden hockten in ihren Melbourner Vorortwohnküchen, redeten über Geldsorgen, Autos und Kinder. Sie halfen sich gegenseitig. Das schien alles gar nicht weit weg von Ostberlin.

Charlene, die Rolle von Kylie Minogue, war eine aufmüpfige Teenagertochter. Sie trug Locken, ausgebeulte Sweatshirts und Latzhosen. Und sie machte eine Ausbildung zur Mechanikerin! As a girl! Sie widersetzte sich den Ansagen ihrer Mutter, sie machte einfach, was sie wollte(➝ Resilienz). Nur was zur Hölle fand sie an Scott? Diesem blonden Schmalzbubi (Jason Donovan)? Irgendwann sangen sie Especially for you – es wurde ein Welthit. Es war ähnlich wie bei Bonnie Bianco und Pierre Cosso in Cinderella. Er hatte den Schmuseblick, sie Charisma. Maxi Leinkauf

P

Plattenteller Pete Burns von Dead Or Alive hatte nur einen Superhit – und der wurde produziert von Stock Aitken Waterman: You Spin Me Round (Like A Record) ist eines jener seltenen Stücke, das über die Jahre wenig verloren hat. Okay, das Video hätte ein Update verdient, doch der Sound, ganz anders als bei vielen Songs aus der britischen Hitfabrik (➝ Erfolgsrezept), ist noch immer von bedrückender Direktheit. 1984 kam die Singleheraus, gesungen von einem Mann in einem violetten Kimono, mit einer Augenklappe, reichlich Kajal unterm anderen Auge und einer hochtoupierten Frisur, wie man sie davor selten gesehen hat.

Burns verstarb 2016, doch dieser Song lebt weiter. Viele Stücke aus den 80ern sind zu Gassenhauern verkommen. Nicht so dieser erste Tophit von Stock Aitken Waterman: Nie klangen die so freaky, so strange, aber auch so unique und high-energy. Westbam, DJ Hell oder Miss Kittin lieben den Song – und nicht nur sie: Bis heute ist You Spin Me Round eine Wunderwaffe gegen leere Tanzflächen und schlaffe Partys. Marc Peschke

R

Resilienz Dass auch die Profis der polierten Oberfläche bei ihrem Großprojekt, das generische Songwriting bis zur ultimativen Ununterscheidbarkeit (➝ Erfolgsrezept) zu treiben, an ihre Grenzen stoßen können, zeigte 1987 die noch sehr junge und international weitgehend unbekannte australische Seifenoperndarstellerin (➝ Neighbours) Kylie Minogue, als sie nach London flog, um ihre erste eigene Single I Should Be So Lucky mit Stock Aitken Waterman aufzunehmen.

Die Fama besagt, dass die Produzenten sich ihrer Fähigkeiten damals so sicher waren, dass sie nicht einmal einen Song vorbereiteten, sondern Kylie 40 Minuten am Eingang warten ließen und die Zeit nutzten, um das Instrumental zu komponieren. Dieses klingt in seiner Aneinanderreihung jedes denkbaren Klischees des Dance-Pop der 1980er Jahre dann allerdings auch aus heutiger Sicht beinahe wie eine Parodie. Angesichts dieser eher ungünstigen Umstände ist es erstaunlich, dass die Sängerin dem Song noch ein gewisses Maß an unschuldiger Individualität zu verleihen imstande war.

Und so wirkt sie dann auch im prototypischen Penthouse-Set des dazugehörigen Musikvideos so angenehm deplatziert, als würde sie noch einmal eben alle Requisiten zurechtrücken, bevor es dann mit dem eigentlichen Dreh losgehen kann. Bekanntermaßen entwickelte auch Nick Cave, zu diesem Zeitpunkt fernab von Lofts in einer kleinen Kammer in Berlin-Schöneberg, augenblicklich eine stille Zuneigung. Tilman Ezra Mühlenberg

Rick Astley Rick Astley versucht ein Comeback. Ob es ein voller Erfolg wird? Unwahrscheinlich. Ob er pleite ist? Auch unwahrscheinlich. Ob er sich etwas beweisen will? Schon wahrscheinlicher.

Astleys Problem ist nicht einmal, dass er wie so viele Stock-Aitken-Waterman-Künstler besonders untalentiert wäre (➝ Erfolgsrezept). Mehr Stimme als so manches Sternchen aus der englischen Hitfabrik, Jason Donovan (➝ Neighbours), Sabrina (➝ Antifeminismus) oder Samantha Fox (➝ Männerfantasie) etwa, hat er ja. Insofern geht die dritte Nr. 1 für Stock Aitken Waterman nach Dead or Alives 80er Klassiker You Spin Me Round (Like A Record) (➝ Plattenteller) von 1984 und Mel and Kims ultimativem Kirmes-Soundtrack Respectable (1987) für Astleys Never Gonna Give You Up (1988) echt in Ordnung.

Astleys Problem ist ein Thomas-Mann-Problem: nicht nur, weil man ihn den Hanno Buddenbrook der Charts nennen könnte. Sondern weil Mann 1929 den Literaturnobelpreis für den fast dreißig Jahre alten Roman Buddenbrooks gewann. Was er zwischen Erstling und Auszeichnung schrieb, danach krähte damals kein Hahn. Sounds familiar? Aber vielleicht kommt Rick Astley noch einmal als Doktor Faustus des Radiopops zurück. Mladen Gladić

Z

Zauberhand Man klickt auf einen Link und wie von Zauberhand landet man ... jedenfalls nicht da, wo man hinwollte, sondern bei einem Youtube-Video, in dem ein rothaariger Bubi zu scheppernden Beats (➝ Linn) tanzt und singt: „Never gonna give you up“.

„Rickrolling“ heißt der Scherz, dem 2008 mindestens 18 Millionen amerikanische Internetnutzer aufsaßen. Am 1. April desselben Jahres zog Youtube mit: Alle Links zu Videos auf der Startseite führten zu Rick Astley. Wer glaubt, der unfreiwillige Dauerklick aufs Video hätte den Golden Boy noch mehr vergoldet, irrt sich. Angeblich hat er nur 12 Euro an Tantiemen damit verdient, denn geschrieben hatten den Song nämlich ..., na wer? Mladen Gladić

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