Kann Kunst Grenzen öffnen? Sie kann nicht nur, sie muss. »Es ist die Aufgabe des Künstlers und der Kunst, die Nationalstaaten aufzulösen und die Landschaften zu öffnen.« Mit dem gelb auf eine grüne Plastiktafel gemalten Satz feierte im dänischen Pavillon in Venedigs Giardini der längst abgelegt geglaubte Tonfall engagierter Sozialkunst der siebziger Jahre auf der 49. Kunst-Biennale noch einmal fröhliche Urstände. Die plakative Goodwill-Formel des dänischen Künstlers Henning Christiansen, Gesellschaftskritik von der ästhetischen Stange, wurde von den meisten Besuchern mild belächelt. Trotzdem markierte das Verlangen nach einer grenzüberschreitenden politischen Utopie einen unterschwelligen Grundzug vieler Expona
onate der internationalen Gegenwartskunst auf der ältesten Kunstausstellung der Welt. Doch wie schafft man das?Die Biennale ist selbst ein Beispiel für die grenzensprengende Kraft der Kunst. Denn schon auf der, ebenfalls von dem inzwischen fast schon legendären Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann kuratierten »Apertutto«-Biennale von 1999 hatte dieser das überlebte Konzept, die »Weltsprache« Kunst in nationalen Pavillons zu präsentieren, mit dem aufsehenerregenden Auftritt chinesischer Künstler aufgebrochen. Auch in diesem Jahr war die Hommage an Alighiero Boetti im venezianischen Pavillon, der schon in den siebziger Jahren mit seinen Mappa, gestickten Weltlandkarten, das Bewusstsein globaler Interdependenz vorweggenommen hatte, so programmatisch wie Marco Neris Bestandsaufnahme der Welt, Quadro Mondiale. Die Installation aus allen 192 handgemalten Nationalfahnen prangte auf dem von Szeemann im letzten Jahr kurzerhand zum zentralen Pavillon erklärten Gebäude der Italiener. Und der Belgier Luc Tuymans provozierte die unaufgearbeitete Kolonialgeschichte seines Heimatlandes in dessen Stammhaus mit Porträts des kongolesischen Volkshelden Lumumba. Die Dialektik der Interkulturalität heißt offenbar: Das obsolete Konzept homogener Nationalstaaten löst man am besten mittels ihrer angestammten Behälter auf. Ebenfalls schon vor zwei Jahren trotzte Szeemann einem symptomatischen Gelände zusätzliche Freiflächen für die Biennale ab. Wer auch in diesem Jahr wieder Ausstellungsraum für Ausstellungsraum tiefer in das Militärgelände der italienischen Marine gelangte, in dem sich die neuen Arsenale-Hallen ausdehnen, sah das Herz des NATO-Flugzeugträgers Italien aus, wie die DDR kurz vor der Wende: rostige Kanonenboote auf wackligen Trockendocks, Hebekräne ohne Seile, bröckelnde Kasernen, die noch der römischen Armee als Pferdeunterkünfte gedient haben dürften.Hatte die Kunst dem Plateau des maroden, leeren Systems der machtgestützten Identität, in das man da unversehens vordrang, etwas entgegenzusetzen? Das großpurige Motto Plateau der Menschheit, zu dem Szeemann Gilles Deleuze´s Milles Plateaux verkürzte, hielt nicht immer, was es versprach. Szeemanns Utopie gleichberechtigter Kulturen auf dem Rondell im Eingang des indischen Pavillons, wo Rodins Denker nur eine, gleichgroße Option neben der Statue des indischen Gottes Tirthankara Parsavanatha ist, nahm man noch an. Auch wenn manche Versuche, die Sprachen der unterdrückten Kulturen in die internationale Formensprache zu integrieren, wenig überzeugten. Denn die Zeichen und Kürzel aus den Mythen und Erzählungen der Yanomani, die der venezolanische Künstler Victor Hugo Irazabal aus seinen jahrelangen Reisen durch den Regenwald seines Heimatlandes entlang des Orinoco zu einem »contemporary alphabet« destilliert und auf Hölzer und Bildflächen übertragen hat, sind eine zwiespältige Einverleibung.Neben den interkulturellen Bekenntnissen waren auch die sonstigen Menschheitsprobleme in Venedig überaus präsent: von den bedrückenden Zuständen in amerikanischen Hinrichtungsgefängnissen über die vergessenen Opfer von Tschernobyl bis zur globalen Wegwerfgesellschaft. Das Formproblem der meisten dieser fotografischen Sozialrealismen war jedoch unübersehbar. Die schwimmende Abtreibungsklinik, die das holländische Atelier van Lieshout für den Einsatz in der internationalen Zone vor den Küsten der Länder gebaut hat, in denen Abtreibung verboten ist, war zwar beeindruckend. Doch ist das Kunst? Was unterschied manch banaleren Sozialkitsch in Venedig von den ungleich kraftvolleren »Dinamite«-Graffiti, mit denen Globalisierungsgegner auf Brücken und Straßen der Lagunenidylle »No Clonazione. Sabotare Le Biotech« sprayten und zum Kampf gegen das »Capitale Multinazionale» aufriefen? Angesichts der Notlage vieler Frauen in der Dritten Welt hat das Verdikt der Lieshout-Artisten, man solle nicht länger fragen: »What is art?« sondern: »What can art do?« etwas Bezwingendes. Doch mit diesem umstandslosem Pragmatismus verschwinden ästhetische Kriterien. Kein Wunder, dass viele Probleme so vordergründig abgehandelt wurden wie die riesigen McDonalds-Initialien des Japaners Masato Nakamura aus gelbem Neon. Oder die goldüberzogenen Schildkrötenskulpturen der Cracking Art Group, die in allen Ecken der Giardini stehen. Das Symbol für die verlorengegangene Langsamkeit und Weisheit der Vorgeschichte, Treibstoff für eine neue Zivilisation, funktioniert nicht. In Joris Karl Huysmans Roman Gegen den Strich, dem ästhetischen Fanal der Fin-de-Siècle-Dekadenz der vorletzten Jahrhundertwende, waren die Schildkröten Symbol für die verkünstlichte Natur. Der letzte, weltmüde Spross aus dem Hause der Floressas des Esseintes ließ ihre Panzer mit Gold und Juwelen überziehen, bis sie nicht mehr atmen und sich bewegen konnten. In Venedig verenden sie unter dünnem Politfirnis als vernatürlichte Kunst.Nach dem luftig-lockeren Apertutto-Erfolg wollte Szeemann in diesem Jahr in Venedig eine Steigerung. Doch auch die Frage nach der neuen Utopie, auf die für ihn die politischen Zeitbomben zielen, hat der vielbewunderte Kurator ungeschickt arrangiert. Joseph Beuys großartige Installation aus Berlin, Das Ende des XX. Jahrhunderts, von der diese Diskussion ihren Ausgang hätte nehmen müssen, lag weit abgelegen irgendwo hinten in den Arsenale. Doch ob sich das 21.Jahrhundert überhaupt noch unter einer Generalidee bündeln lässt? Ist die Utopie noch der gleiche magische Stoff? Wenn heute, wie der amerikanische Künstler Nick Waplington mit seinen erfundenen Websites von der Sexorgie bis zur Herrschaft der weißen Suprematisten zeigt, dass heute jede Utopie im Internet mit Mastercard zu haben ist? Zur Dialektik des Utopieverlustes gehört es zwar, dass manche Künstler den ästhetischen Horizont ausdehnen, während der politische schrumpft. So hat der polnische Künstler Leon Tarasewicz den Boden des polnischen Pavillons mit einem, orange-gelb-blauen Farbrelief überzogen, das an Ackerfruchen erinnert - Kreation einer unendlichen Landschaft, so weit das Auge reicht. Doch trotz der politischen Angriffslust ist die Utopieskepsis unübersehbar. Der mexikanische Künstler Manuel Ocampo hat in einem seiner ironischen Gemälde Marx, Engels und Lenin in einem Sack zusammengebunden und die Erfahrungen mit einem Jahrhundertmotiv in die Worte gefasst: An ideal, not to be realized. Und Ilya Kabakov zeigt diese Idee einmal mehr als bloße Staffage und verrottete Tribüne, von der man gerade noch die trüben Rücklichter eines abfahrenden Zuges sehen kann. Zwar klingt die Aufforderung zur Imagination, die der Schweizer Urs Lüthi auf einer seiner wie im Supermarkt gestapelten Frisbee-Scheiben geschrieben hat: »Make a movie about your own life« wie nach einem Plädoyer für die private Utopie. Aber eben doch nur als ewiger Antrieb. Und nicht als Erfüllung. Die , sagt Lüthi, wäre schal. Vielleicht sind die »kleinen Revolutionen«, von denen auch Szeemann dann doch lieber als von der ganz großen Utopie spricht, die Revolutionen der Wahrnehmung. Das »System of freedom« des dänischen Ikea-Beuys Henning Christiansen fordert den Einzelnen auf, die Mauern, die er um seine eigene Spiritualität gebaut hat, zu sprengen. Auch Lüthi wußte: »Insecurity keeps you young.« Das ist schön gesagt. Aber schwer getan. Allein wegen Richard Serras zwei überwältigenden Spiralskulpturen lohnte sich die Reise nach Venedig. In den Stahlzirkeln mit dem labilen Gleichgewicht verliert man sachte die Orientierung. Mal neigen sich die über drei Meter hohen Stahlwände nach links, mal plötzlich nach rechts. Man weiß nicht mehr, ob man gerade geht oder gleich umfällt. Das ausgediente Material des Industriezeitalters evoziert die beklemmendsten Virtualitäten des Bewusstseins. Doch man läuft weiter. Bei der Installation Diabolus des Isländers Finnbogi Petursson ist das schon anders. In seinem, den Kopf umschließenden, 16 Meter langen Holzzylinder nimmt die Intensität eines im Mittelalter von der Katholischen Kirche aus dem Repertoire der Orgeln gebannten Tones zu, je mehr man sich auf den Trichter zu bewegt. Man sollte meinen, dass die grenzensprengende Kraft eines Tones, den Staat und Kirche so sehr fürchteten, viele magisch anzieht. Aber viele hatten Angst, den Weg ins Innere des Trichters bis zu Ende zu gehen.49. Venedig-Biennale noch bis zum 4. November 2001, Katalog: 100.000 LITwww.labiennaledivenezia.net
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.