Plattenbau-Märchen

Aktualisiert Der neue Intendant Armin Petras inszeniert "Käthchen von Heilbronn" am Gorki-Theater in Berlin

Mit einem Kraftakt begann das Berliner Maxim Gorki Theater die erste Spielzeit des neuen Intendanten Armin Petras. Der Eröffnung mit zehn Aufführungen an einem Abend folgten fast täglich weitere Premieren. Weil in diesem Tempo kein Theater produzieren kann, sind einige der Inszenierungen Übernahmen aus Hamburg und Frankfurt/Main. Dazu zählt auch Kleists Das Käthchen von Heilbronn, das Petras nun für die Berliner Premiere überarbeitet hat. Dass es so gut in die Stadt passt, liegt dabei nicht nur am Foto eines (Ost-) Berliner Plattenbaus.

Zu sehen ist es ohnehin erst später am Abend, zu dessen Beginn schwarzer Tüll die Bühne verhüllt. Davor steht links ein Stapel Matten, rechts eine Palette Wasserflaschen, dazwischen ein streng gescheitelter, in Brauntöne gekleideter Rollstuhlfahrer mit einem Blumenstrauß. Sieht so Friedrich Wetter Graf vom Strahl in Käthchens Träumen aus? Und warum besingt er das Ende einer Liebe, ehe sie richtig begonnen hat?

Denn noch ist Käthchen (Hilke Altefrohne) so blutjung und schwärmerisch, dass ihr Vater (Andreas Leupold) und ihr Verlobter (Gunnar Teuber) Verführung wittern und den Grafen vor Gericht zerren. Dort erscheint ein zotteliger Gitarrist (Robert Kuchenbuch), der Käthchen ein Autogramm auf ihren Gipsarm gibt. Der junge Mann im Rollstuhl (Michael Klammer) bleibt fürs Erste so anonym wie die schon ältere Frau im Morgenrock (Ruth Reinecke), die den Prozess in einem Buch verfolgt. Doch als von Opium die Rede ist, klappt sie es entnervt zu: Der Wortlaut entspricht zwar dem Original, gespielt stellt sich aber manches anders dar.

Das gilt erst recht, wenn sich nach Friedrichs Freispruch der Vorhang hebt. Auf der Bühne stehen zwei Gerüste neben einer Leinwand, auf der später der Plattenbau zu sehen ist. Zunächst aber erscheint, elegant in Schwarz und Weiß gekleidet, Kunigunde von Thurneck (Fritzi Haberlandt). Ihre Bitte um Wasser wird zum ersten großen Lacher. Dass viele folgen, heißt nicht, dass die Inszenierung lustig oder gar zum Lachen ist - es heißt, dass "die Kraft, die sie in die Lüfte hebt, größer ist als jene, die sie an der Erde fesselt".

So schreibt Kleist im Aufsatz Über das Marionettentheater, den der Abend mehrfach zitiert. Was Kleist auf das unschuldige, weil absichtslose Spiel von Puppen münzt, überträgt der Abend auf die Figuren, die zwar den Text, aber nicht die Motive übernehmen: Nicht böse Ritter stellen Kunigunde nach, sondern der Rollstuhlfahrer mit den Blumen. Und auch wenn Friedrich sie nicht retten musste, ist er für die Avancen Kunigundes offen und führt sie in sein "Schloss" - dem Plattenbau, der nun eingeblendet wird und weniger für einen Teil Berlins steht als für unterschiedliche Interessenlagen unter einem Dach.

Das Stück ist 200 Jahre alt und berichtet im Gewand eines historischen Ritterspiels von einem Engel, der soziale Unterschiede durch das Band der Liebe tilgt. Dieses Märchen erzählt Petras fast wörtlich nach - nur dass er die Ritter durch moderne Helden ersetzt und so die Handlung in die Jetztzeit verlegt. Und weil dort Engel rar geworden sind, geht auch das Märchen von der Liebe irdisch aus. Nicht einmal Käthchens Traum unter dem Holunderbusch kann daran etwas ändern. Zwar geht Friedrich mit dem Versprechen, Ringe zu kaufen, doch wenn Käthchen erwacht, trägt Kunigunde ein Hochzeitskleid, sie selbst eine Pistole. Als ein Schuss fällt, verschwinden beide junge Frauen: die eine im Graben vor der Bühne, die andere hinterm Vorhang.

Kaum ist der wieder offen, macht die Inszenierung einen Sprung von einigen Jahrzehnten: Die anonyme Frau wird als gealterte Kunigunde im Krankenbett hereingerollt, und ein ergrauter Friedrich teilt ihr mit, dass Käthchen soeben auf dem Kirchhof beigesetzt wurde. Darüber, was in der Zwischenzeit geschah, wird nichts berichtet. Doch noch ist der Abend nicht zu Ende. Eine Passage aus Kleists Marionettentheater folgt, laut der das Paradies der Unschuld verriegelt und allenfalls über die Hintertür erreichbar ist. Und durch die schleicht sich nach fast zwei Stunden ausgelassener Tristesse eines jener Wunder ein, an das nur blutjunge Schwärmer glauben: Im allerletzten Bild des Abends kann der Rollstuhlfahrer plötzlich laufen!


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