Literatur ist Landschaft. Das ist freilich eine banale und sicherlich schon oft geäußerte Einsicht. Aber dennoch: Selten wird dieser Satz so wahr wie im Urlaub. Und wer mathematisch korrekt ist, wird sofort feststellen, dass dieser Satz mindestens vier Grundreisearten in sich vereint: Ich bin als Schülerin die Wiener Ungargasse entlanggelaufen, um nachzuschauen, wo Malina gewohnt haben soll; in Klagenfurt dagegen war ich in der Henselstraße. Ich war am New Yorker River Side Drive und habe an Gesine Cresspahl, Marie und D.E. gedacht. Neulich in Tel Aviv trug ich einen israelischen Roman in der Tasche herum, ohne auch nur eine einzige Zeile gelesen zu haben. Aber es fühlte sich trotzdem gut an. Und ich erinnere mich genau an all die Plätze in jenem Ferienhaus in Italien, in dem ich Jonathan Franzens Freiheit verschlang. Schon lange war ich nicht mehr derart in einen Roman getaucht. Ich war da wirklich mal weg.
Man kann also Büchern in ihre jeweiligen Landschaften hinterherfahren; oder man reist in die Lebenslandschaften der Autoren hinein. Bücher können unbekannte Orte zu vertrauten machen. Oder aber wir überschreiben sie mit unseren Lektüren, plötzlich liegt Böhmen dann am Meer oder die Toskana mitten in Minnesota. „Liegt Böhmen am Meer, glaub ich den Meeren wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land“, heißt es in Ingeborg Bachmanns Gedicht. Und: „Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.“ Geht es darum nicht? Im Leben und im Urlaub.
So gehört die Frage, was soll man im Urlaub bloß lesen, zu den wichtigsten Fragen der Menschheit überhaupt. Wer, wie die meisten von uns, nur ein paar Wochen verreisen kann, muss dort für den Rest des Jahres Kräfte sammeln. Fehlt das richtige Buch, fehlt nicht viel, und die Erholung wird zur Katastrophe. Deshalb schreiben Autoren des Freitag hier für Sie einmal völlig ohne Aktualitäts- und Themenzwang über Bücher, von denen wir finden, dass Sie sich mit ihnen gut erholen würden. In diesem Sinne: Lesen Sie wohl. Jana Hensel
An einem Schwimmbadsommertag
Von Paul Lindner, dem Helden der Erzählung Fohnsdorfer Schächte, heißt es: „lebte von Schwimmbadsommer zu Schwimmbadsommer“. Im Schwimmbad kann Paul atmen. Denn eigentlich ist er zu zart für eine Welt, die noch ganz im Zeichen des Bergbaus steht; in Fohnsdorf wird Glanzkohle abgebaut, der Schacht ist 1.000 Meter tief. Dass Paul es schwer haben wird, ahnen auch die Großeltern, bei denen er aufwächst. Den Großvater sieht man nie im Schwimmbad. Er ist durch zwei Weltkriege gegangen, ein verschlossener, gewalttätiger Mensch, den die harte Arbeit in der Gruabn noch mehr verschließt. Kommt ihm der Enkel zu nahe, stößt er ihn zurück. Aber der Enkel gewinnt schließlich. Als die Langhaarigen, die „Gammler“, zu den Sommerferien aus Wien in die Steiermark zurückkommen, lässt sich Paul die Haare wachsen und von keinem mehr schneiden. Der Großvater setzt ihm den Strohhut auf, den er nicht mehr abzieht. Später, als Pensionist, setzt er Paul dann manchmal seinen Filzhut auf. „Das war dann auch die größte Nähe, die er zuließ; mehr erwarteten beide nicht.“ Der Leser ist dem Großvater nicht böse, er lernt ihn aus seiner Zeit heraus zu verstehen. W. A. Riegerhof hat ihm und den anderen Hauern, wie man die Grubenarbeiter nannte, sein Buch sogar gewidmet. Insgeheim ist es eine Hommage an alle Menschen, die nie gelernt haben, ihre Probleme mit der nötigen Vernunft und den richtigen Worten zu lösen. Mit wenigen, einfachen Strichen zeichnet Riegerhof dann auch das Ende der Welt, in der Paul Lindner groß geworden ist. Der Fluss wird sauber, die Wirtshausschlägereien werden weniger, auch weil die Menschen nun vor ihren Farbfernsehern sitzen, die sie auf Raten angeschafft haben. Glücklich werden sie nicht. 1978 schließt die Grube. Paul Lindner, das Alter Ego des Erzählers Riegerhof, zieht mit mehrfach gebrochenem Nasenbein fort, in die ferne Stadt (München). Die Erzählung ist nicht lang, an einem Schwimmbadsommertag hat man sie gelesen, man sollte einen Tag wählen, der so heiß ist, dass es brennt, wenn man barfuß auf den Platten geht. Michael Angele
Fohnsdorfer Schächte W. A. Riegerhof epubli, 112 S., 14,90 €
Wenn man jung ist
Je älter, je sentimentaler, sowieso. Wer Die Gärten der Finzi-Contini wiederliest, denkt: Schreibende Männer sind vielleicht einfach die professionelleren Melancholiker. Der Roman ist unvergessen, aber warum eigentlich? Es ist diese schwer zu greifende Stimmung, die ins Herz ging und immer noch dort ist, wo sich der Plot im Grunde längst davongemacht hat. Das Buch von Giorgio Bassani war mir schon deshalb kostbar, weil es schien, als hätte ich als junge Leserin zum ersten Mal unabhängig, noch ohne jeden Feuilletonhinweis, mein komplett eigenes, begeistertes Leseurteil gefällt. Ich war einfach an dieses Buch geraten. Und niemals wieder bin ich so gut einsam gewesen. Die Kerngeschichte ist wie bei anderen Melancholie-Smashern, bei Julian Barnes oder Ian McEwan, klassisch bezaubernd. Wie kann man das erklären? Ich liebe diesen Stil des holprig-eloquenten Dialogs zwischen dem unbedarft schüchternen Jungen und the girl schlechthin. Das Mädchen ist fassungslosmachend hübsch. Wahnsinnig klug. Jugendlich geheimnisvoll. Fantastisch spöttisch. Dieses Mädchen wird der Junge natürlich nie vergessen. In Sachen Identifikation war ich der verliebte Junge, fasziniert von so einem Ausnahmemädchen. Bei den Finzi-Contini ist dieses Mädchen die Jüdin Micòl, die im faschistischen Italien ein toller Snob ist, der Ich-Erzähler, proustähnlich, sehnt sich, ihre kühl-lustige Fassade zu dekodieren, zu ihr vorzudringen. Sein Stolz: hinreißend ungelenk. Es ist Sommer. So ein Sommer, Sie wissen schon, wenn man jung ist. Die Finzi-Contini geben im Zuge derzunehmenden Repressalien unter Mussolini ihre aristokratische Reserviertheit auf und laden die – jüdische – Ferrareser Dorfjugend zum Tennisspielen ein. Komm näher, geh weg. So verliefen die Gespräche zwischen Micòl und dem Ich-Erzähler. Flirrend. Viele Jahre später steht er also noch einmal vor der alten, heruntergekommenen Villa auf dem Corso d’Este. Die Familie wurde deportiert. Katharina Schmitz
Die Gärten der Finzi-Contini Giorgio Bassani Wagenbach, 368 S. 13,90 €
Das Gold ganz in der Nähe
Warum nicht als Urlaubslektüre ein Buch einpacken, das genau dafür geschrieben wurde? Als der Schriftsteller Robert Louis Stevenson im Sommer 1881 mit seiner Frau und seinem zwölfjährigen Stiefsohn in den schottischen Highlands Ferien machte, regnete es dort ziemlich viel. Zum Zeitvertreib begann Stevenson, eine Geschichte rund um eine Schatzkarte zu spinnen. Der Rest ist Literaturgeschichte. Im Hanser-Verlag ist vergangenes Jahr eine schöne Neuausgabe der Schatzinsel erschienen. Andreas Nohl hat die Erzählung von Abenteuerlust, Gier, Mord und Verrat in ein schnörkelloses, zeitgemäßes Deutsch gebracht – und wenn man das Buch in diesen Tagen am Strand wiederliest, merkt man verblüfft: Es ist nicht nur immer noch ein Page-Turner, sondern hat auch einen konkreten Nutzwert. Die Geschichte, wie der Oberpirat Long John Silver je nach Kräfteverhältnis die Seiten zwischen Meuterern und Aufrechten wechselt, möchte man BND und Verteidigungsministerium sofort zur Lektüre empfehlen, damit bei der nächsten Enttarnung eines Doppelagenten die Überraschung nicht mehr ganz so groß ist. Und wenn am Strand der knapp Fünfjährige jammert, er langweile sich, weil er partout keine Sandburgen mehr allein bauen will, kann man ihm die auf die erste Seite gedruckte Schatzkarte zeigen, ihm erklären, dass das Gold hier irgendwo ganz in der Nähe sein muss – und schon rennt er mit der Schippe auf der Suche nach Kapitän Flints Dukaten davon. Bringt einem mindestens 15 weitere Minuten Zeit zum Lesen. Jan Pfaff
Die Schatzinsel Robert Louis Stevenson Hanser, 384 S., 27,90 €
Und irre kühl
Mit Lyrik kann ich nicht viel anfangen. Ob es sich reimt oder nicht: Diese angestrengte Formgebung! Warum Zeilenumbrüche? Wie macht man das überhaupt, einen Lyrikband lesen? Immer ein Gedicht, dann Pause, nachdenken, nachfühlen, nachatmen? Ich bin nun mal der prosaische Typ. Und so hätte ich es fast schon aufgegeben mit der Poesie. Bis ich zweierlei entdeckte: den Hamburger Elbstrand – und die Gedichte von Wolfgang Dietrich. Bitte Hamburg nicht unterschätzen: Erstens geht dort weniger Niederschlag runter als in München. Zweitens ist der Elbstrand tatsächlich ein Strand, mit Sand und Fischbuden. Alle paar Minuten rollt ein Containerschiff vorbei, aus Brasilien, China oder Nigeria, voll beladen mit Maschinenbauteilen oder Diamanten. Ideal, um Lyrik zu lesen: immer abwechselnd ein Gedicht, dann einen Tanker studieren. Text, Tanker, Text. Wolfgang Dietrich hat mit Hamburg nichts zu schaffen – er stammt aus München und lebt heute in Dresden. Aber seine Texte sind Hamburg: schön rau, kantig, wunderbar metallisch. Sein Schreiben bezeichnete er als „Brutalismus“. Dietrich ist Jahrgang 1956, die meisten seiner Gedichte stammen aus den 80ern. Der Post-Punk-Furor jener Jahre, die zornige Konsum- und Sozialkritik, wird mit satirischer Garstigkeit rausgeballert. Schon die Kapitelüberschriften lesen sich wie Songtitel einer 80er-Avantgardeband wie Palais Schaumburg. Die 80er Jahre waren die Zeit, in der unser Gegenwartswahnsinn wurzelt; die Zeit, in der Margaret Thatcher die Grundlagen für die Neoliberalisierung schuf. Die Zeit, in der Ironie oft noch schwer politisch war. Es ist verblüffend, wie modern sich viele Dietrich-Texte genau jetzt lesen. NSA und NSU? Im Gedicht Mahlzeitheißt es: „Seit sich immer wieder / fingerlang eingebackene / Verfassungsschützer / im Brot finden, / besteht mein Frühstück / aus Fisch.“ Gentrifizierung? Ich empfehle Dietrichs Stanze des Spekulanten: „Ich rupf ein Bündel / Hochhäuser aus / schäle sie, schlürf / aus den Lichtschächten / die fetten flüssigen / Bürger. Ah, / wieder ein / Stadtteil weniger.“ Leider wollten die Kritiker nie etwas von Dietrichs Literatur wissen. Heute versucht er sich als Bildhauer und Steinmetz durchzuschlagen. Einen Roman hat er auch mal geschrieben, Berliner Sterben, und der ist leider wirklich nicht sehr gut. Aber Dietrichs Gedichte: messerscharf – und irre kühl. Sozusagen die optimale Erfrischung für schwül verschwitzte Strandstunden. Katja Kullmann
Hauptstadt der Arbeit. Gedichte und Satiren Wolfgang Dietrich Kirchheim, 96 S., 11,50 €
Selâmünaleyküm, Tristesse
Fahren Sie nicht an den Strand. Fahren Sie in eine Stadt, am besten in eine, die groß und laut ist. Man schaltet dort viel besser ab als an der See. Fahren Sie nach Athen oder besser noch nach Istanbul. Schwimmen können Sie dort auch, auf den Prinzeninseln im Marmarameer oder auch im Bosporus. Nehmen Sie Orhan Pamuks Istanbul mit. Es beschreibt, wie die Stadt ihn zum Schriftsteller gemacht hat, was ein gewaltiger Vorgang ist und viel mit einer den Istanbulern eigenen Gemütsverfassung namens Hüzün zu tun hat. Dieser Hüzün, so steht es bei Pamuk, ist der Tristesse vergleichbar, wie Claude Lévi-Strauss sie in seinen Traurigen Tropen beschreibt – aber eben nicht ganz. Und so listet Pamuk auf fünf Seiten auf, wie der Hüzün sich in seiner Stadt manifestiert. Lesen Sie dieses Kapitel zuerst, Sie werden alles, was Pamuk hier beschreibt, wiederfinden. Oder nein, fangen Sie doch mit der ersten Seite an, mit diesem herrlichen Satz: „Als Kind wurde ich lange den Gedanken nicht los, irgendwo in Istanbul, in einem Haus wie dem unseren, müsse noch ein zweiter Orhan leben, ein Ebenbild von mir, ein Zwilling, ein zweites Selbst.“ Und dann spazieren Sie durchs Viertel Nişantaşı und schauen Sie, ob Sie das Haus sehen, an dem über dem Türpfosten „Pamuk Apt.“ steht. Sie werden es vermutlich nicht finden, dafür aber unzählige andere hübsche schmale Stadthäuser entdecken, die eben „Öger Apt.“ oder „Dilek Apt.“ heißen. Orhan Pamuk selbst, ist in seinem Buch zu lesen, war Urlauben übrigens abgeneigt. „,Geh doch mal raus, fahr irgendwohin, mach eine Reise‘, so lauteten die Standardseufzer meiner Mutter.“ Christine Käppeler
Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt Orhan Pamuk Fischer, 640 S., 11 €
Von allen Gedanken: die interessanten
Religionen sollte man auf keinen Fall unterschätzen, und zwar in ihrer Gefährlichkeit. Warum, das steht im Manifest des evolutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon. Der Philosoph ist derzeit wohl der bekannteste deutsche Religionskritiker, sein Buch eine Art Bibel der Atheisten, inklusive der Zehn Angebote. Wobei es da doch einen entscheidenden Unterschied gibt. Zitat: „Während Wissenschaftler wissen, dass sie nur etwas ‚glauben‘ ( = für ‚wahr‘ halten), was heute angemessen erscheint, morgen aber möglicherweise schon überholt ist, glauben Gläubige, etwas zu wissen, was auch morgen noch gültig sein soll, obwohl es in der Regel schon heute widerlegt ist.“ Warum das Buch im Urlaub lesen? Nicht viele Philosophen können auf so wenigen Seiten so viele interessante Gedanken gut verständlich und wohlstrukturiert formulieren. Weshalb handeln wir zum Beispiel alle eigennützig, aber nicht unbedingt egoistisch? Von Karl Marx bis zur Tierrechtsbewegung ist alles dabei. DasManifest kostet einen Zehner und passt bequem in jede Badehose. Und: Es geht auch um Sex! Felix Werdermann
Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur Michael Schmidt-Salomon Alibri, 196 S., 10 €
Herz schlägt höher
Bei der Urlaubslektüre kommt es vor allem aufs Gewicht an. Zu viele Pfunde haben darf sie nicht, muss ja ins Gepäck, zu schwer lesbar sein soll sie nicht, muss ja am Strand verstanden werden können. Ich empfehle – ja, wirklich – Walter Benjamins Passagen-Werk für diesen doppelten Zweck. Es hat zwar insgesamt satte 2.000 Seiten, aber die sind aufgeteilt auf zwei Taschenbuchbände, wovon der erste gerade mal 350 Gramm auf die Waage bringt, das schultert jeder Rucksack. Intellektuell verdaulich ist das Buch aber, weil es als Ganzes sowieso unlesbar ist. Die riesige Materialsammlung zu den Konsumwelten der Pariser Passagen, in großen Teilen auf Französisch, enthebt von der Anstrengung, irgendeinem Faden des Arguments folgen zu wollen. Man kann herumstöbern, hier lesen, dort überspringen und dabei zufällig einiges entdecken, zum Beispiel den Herrn Karl Ferdinand Gutzkow, aus dessen Reisebriefen Benjamin viel Kluges exzerpierte. Vor allem aber finden sich in dem ganzen Texthaufen die prächtigsten Goldstücke, die unglaublichsten Gedanken und Wahnsinnssätze, die aufblitzen im echt benjaminschen Sinn: Mode hat etwas mit dem Tod zu tun, die Langeweile etwas mit dem Wetter, das Sammeln etwas mit dem Versuch, die Dinge der Warenwelt zu entziehen. „Zwiesprach mit der Verwesung. Das ist Mode“ – „Die Reklame ist die List, mit der der Traum sich der Industrie aufdrängt.“ Nach der Lektüre solcher Sätze kann man stundenlang aufs Meer oder in die Berge schauen und drüber nachdenken. Allen Ernstes, der erste Band des Passagen-Werks hat mich im Frühjahr auf alle Wanderungen in den Wiener Wald begleitet und die öde Zeit der S-Bahn-Fahrten hin und zurück wie im Flug vertrieben. Diese 350 Gramm Papier sind so beruhigend, weil der Stoff darin nicht ausgehen wird. Herz schlägt höher, besser als jeder Krimi, tolles Rätselheft: „Und Langeweile ist das Gitterwerk, vor dem die Kurtisane den Tod neckt.“ Was das schon wieder heißt? Andrea Roedig
Das Passagen-Werk Walter Benjamin Suhrkamp, zwei Bände, 32 €
In Luft aufgelöste Rituale
Nigel Barley war bis 2003 Kustos am British Museum. Bis vor ein paar Jahren hat er jedes Jahr ein Buch veröffentlicht. Zum Ende hin freilich etwas behäbiger, aber die Jahre zuvor die schiere Suchtlektüre. Er ist, wie die besten Illusionisten auf der Bühne, ein Desillusionist, wie er im Buche steht: So virtuos, trickreich, witzig und gewitzt, so spielerisch mit sich selbst hat niemand die Ethnologie desillusioniert und zugleich doch gewürdigt. „Die Ethnologie hat es zwar mit Menschen zu tun, aber sie erforscht sie aus gewisser Distanz und betrachtete sie […] als Repräsentanten einer bestimmten kollektiven Kultur.“ Barley hingegen ist, ganz britisch, Hüter des Einzel- und Ausnahmefalls, sieht sich mittendrin – ob nun von Bürokraten, Finanzschnorrern oder Hausfrauen behelligt, die mangels TV den Seitensprung als Zerstreuung betreiben. Nun gut, Die Raupenplage, seine Rückkehr zu den Dowayos in Kamerun, stammt von 1986, als alles in Afrika noch ganz, ganz anders war. Aber die fröhlich akkumulierten Malaisen zwischen bestechlichen Präfekten, dreisten Affen, geleimter Zahnkrone, deutschem Aufklärungsfilm und eben der Raupenplage und in Luft aufgelösten Ritualen sind die beste Ferienlektüre, die man sich als Antidot gegen Mückenplage, Kindergeschrei, Hundebesitzer, Regentage, englische oder russische Mittouristen denken kann: Sie härten nicht nur ab, sondern animieren zur fröhlich gesteigerten Umweltbeobachtung! Was will man mehr wollen? Erhard Schütz
Die Raupenplage. Von einem, der auszog, Ethnologie zu betreiben Nigel Barley Klett-Cotta, 192 S., 10,95 €
Die Poesie der Empörung
Sollte Sie der Urlaub nicht ans Meer, sondern rein zufällig in die Lausitz führen, kommen Sie ohnehin nicht dran vorbei, denn die Tagebauerweiterungen, die sich wie eine Krake ins Land fressen, sind unübersehbar. Wie die alte gewachsene Kulturlandschaft an der polnischen Grenze einmal aussehen könnte, lässt sich heute schon in Garzweiler besichtigen, wo die Bagger der Energiekonzerne eine schreckliche, aber auch faszinierende Mondlandschaft hinterlassen haben, einzige touristische Attraktion nach dem Raubzug durch das einst fruchtbare Land. Ingrid Bachér hat vor drei Jahren am Beispiel der Familie Aschoff und ihrem Kampf um ihren Hof ein beeindruckendes Porträt über den langanhaltenden Widerstand der dortigen Bewohner vorgelegt.Die Grube handelt von der Auslöschung einer Landschaft und der Vertreibung ihrer Bewohner, die, wie heute in Nochten in der Lausitz, einerseits auf das Recht auf Heimat pochten und gleichzeitig von der Aussicht auf Arbeit und Geld korrumpiert wurden. Ihre Empörung über die rücksichtslose Aneignung des Landes durch die Stromkonzerne hat die heute 83-jährige Autorin, ehemals Vorsitzende des deutschen PEN, ebenso in diesen Roman eingeschrieben wie die Trauer über die aufgelassene, zerborstene Landschaft, dieses „ausgebalgte Erdtier“. Wer im Urlaub seinen politischen Kopf nicht zu Hause lassen will, kann bei diesem durchaus poetischen Stück Prosa seine Widerstandskräfte stärken. Ulrike Baureithel
Die Grube Ingrid Bachér Dittrich, 174 S., 17,80 €
Der Tod in Italien
Empfindsamen Geistern sei von der Reise nach Italien abgeraten. Das lehren uns Novellen. Thomas Manns Gustav von Aschenbach fand seinen Tod in Venedig. Bei Hartmut Langes wartet das Ende in Rom und Triest. Dorthin reist der Kunsterzieher Müller-Lengsfeldt in Die Bildungsreise. Zeichnend sitzt er zu Beginn „am Rande des Palatins“ und sieht „auf das Forum Romanum zu seinen Füßen, ein Platz, der abschüssig wirkt“. Der so eifrig kopierende Kunsterzieher hat eine Pauschalreise auf den Spuren Winckelmanns gebucht. Nun mag er räumlich erhaben dasitzen. Sozial hält er sich aber „am Rande“ auf. Müller-Lengsfeldt hat sich von seiner Reisegruppe abgesondert, denn dort wird er permanent mit einem Widersacher konfrontiert: dem robust auftretenden Herrn Schmeer. Die beiden Herren teilen ihre Leidenschaft für die Reiseleiterin Frau Ziegler. Weitere Gemeinsamkeiten gibt es nicht.
Herr Schmeer, dessen Name direkt aus einem Thomas-Mann-Roman stammen könnte, versteht sich prächtig mit den anderen Reiseteilnehmern, ordert im Café Campari für alle. Vom Leben denkt dieser Mann, dass „alles seine Richtigkeit“ habe. Friedhöfe, die den fragilen Müller-Lengsfeldt magnetisch anziehen, bezeichnet Herr Schmeer despektierlich als Erdlöcher, in denen man tote Dienstboten untergebracht hat. Als es seiner Meinung nach in Rom „nichts mehr zu recherchieren“ gibt, packt er zielstrebig seinen Koffer, um weiterzureisen – in Begleitung von Frau Ziegler. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir uns demnächst verloben.“ Viel bleibt dann nicht für einen Zweifler und Zögernden wie Müller-Lengsfeldt, der sich nicht dem Leben, sondern dem Tod zuwendet.
Während Herr Schmeers sich allein für Winckelmanns erfolgreiches Leben interessiert, taucht Müller-Lengsfeldt nach der Romreise ein in den Leidensweg seines Abgotts, der in Triest ziemlich erbärmlich von einem Stricher ermordet worden ist. Dieses abrupte, weiterhin rätselhafte Ende deckt sich kaum mit seinem unbestrittenen Einfluss auf die Weimarer Klassik. „Stille Einfalt, edle Größe“ sah der Kunsthistoriker in Statuen wie dem nackten Apoll von Belvedere, über die Goethe im Sommer 1771 an Johann Gottfried Herder schrieb: „Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie dencken, Mann, und es fibriert noch viel zu sehr, als daß meine Feder stet zeichnen könnte. Apollo von Belvedere, warum zeigst du dich in deiner Nacktheit, daß wir uns der unsrigen schämen müssen?“ Der schöne Apoll und das dreckige Sterben – wie passt das zusammen? Müller-Lengsfeldt begibt sich aus Wissensdurst in Gefahr, während Herr Schmeer seinen Lebenshunger in der Sonne stillt. Die Bildungsreise ist der beste Einstieg in das beeindruckende Erzählwerk Hartmut Langes, hinein ins dunkel Raunende, während die italienische Sonne über allem strahlt. Jan Drees
Die Bildungsreise in „Gesammelte Novellen“ Hartmut Lange, Diogenes, 1152 S., 34,90 €
Die vier Wände des Postmodernen
Kurz gezögert, welcher von Marcel Beyers Romanen als Ferienempfehlung am flüssigsten wäre. Noch mal geblättert und verglichen, dann glasklar. Es ist Das Menschenfleisch, erschienen vor zwanzig Jahren. Kaltenburg, sein jüngstes Werk, ist dann das Meisterwerk des Autors, präzise und überladen von Recherchen und Details. Kaltenburg schaut zurück ins zerbombte Dresden. Wie alle seine Romane beschreibt es deutsche Geschichte. Das Menschenfleisch aber bleibt in den vier Wänden des postmodernen späten 20. Jahrhunderts hängen. Genau richtig für Ferien. Spione: zu kompliziert für diesen Zweck. Flughunde: ein Roman für eine Auslandsreise. Um sehnlich sich zurück zu wünschen in die wahre Erzählung des Tontechnikers Herrmann Karnau aus der Nazi-Zeit. Der Gedichtband Erdkunde: zu lyrisch für viele freie Stunden mitten am Tag, mitten in der Woche.
Das Menschenfleisch ist wie gemacht für den warmen Strand, in dem man liegt, im Gras am kühlen Deich ginge es auch. Es ist Marcel Beyers Erstling. Dort sucht er so gezielt wie verzweifelt nach den Körpern, umgarnt sie, verfehlt sie. Menschenfleisch entstammt dem Embryonen-Stadium eines Schreibens, das gleichzeitig um Sprache ringt wie es die Lebenswärme nicht verlassen will. Die Erstausgabe hat einen androgynen Torso auf dem Schutzumschlag, den der Leser geschmeidig in der Hand hält. Es ist ein weiblicher Körper, dem der Roman sich nähert und beschreibt, wie man in ihn kriecht, ihn verschlingt, wie man ihn vergisst.
Mit Menschenfleisch begann Beyers Prosa über die Reichweite von Sprachen, ihren wohnsitzlosen Charakter und ihre Verschlossenheit. Werden in Kaltenburg die Sprachkörper als Vögelchen, die mal Stieglitz mal Distelfink heißen, eingebettet in die Wissenschaft der Ornithologie, so interessiert sich Menschenfleisch für die Grundmechanik einer Verkoppelung: „wie nah muß man mit dem Mund dem anderen ans Ohr gehen beim Sprechen, damit er etwas versteht“.
Was aber macht eigentlich Artaud immer zwischen den Kapiteln? War der nicht bereits in der Postmoderne als reichlicher Spinner, sein Theater und sein Doppelgänger als überschätzt vergessen? Menschenfleisch ist auch eine Zitatcollage im Pop-Stil, der Nachspann liest sich wie die Literaturliste einer ehrgeizigen Hausarbeit, von Lacan bis Gertrude Stein. Also auch eine schöne Erinnerung an fleißige vergangene Lesezeiten. Am Ende weiß man wieder: Die Sprache ist es nicht, welche die Körper vereint: „Die Sprache und ich, wir drehen dann gemeinsam durch.“ Macht nichts, solange Literatur uns darüber belehrt. Eva Erdmann
Menschenfleisch Marcel Beyer Suhrkamp 167 S., 7,50 €
Die ausgebliebene Katastrophe
In Andrej Nikolaidis Roman Die Ankunft geht es um nicht weniger als den drohenden Weltuntergang. New York steht unter Wasser, in Japan regnet es Frösche, Holland wird von einem Tsunami verwüstet und an der montenegrinischen Adriaküste herrscht Schneetreiben. Dort ermittelt in dem Touristenstädtchen Ulcinj ein namenloser Privatdetektiv. Hat der brutale Vierfach-Mord, der die Gemeinde aufschreckt, etwas mit einem geheimnisvollen und gestohlenen Buch aus dem Mittelalter zu tun, das vom Ende der Welt kündet? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Morden, dem Schneetreiben und den Katastrophenmeldungen aus aller Welt? Je weiter der Detektiv bei seinen bizarren Recherchen vorankommt, desto undurchsichtiger wird der Fall.
Der 1974 geborene Andrej Nikolaidis ist hier kaum bekannt. Die Ankunft ist sein erster Titel auf Deutsch. Neben der literarischen Tätigkeit arbeitet Nikolaidis auch als Referent des Parlamentssprechers und Präsidenten der Sozialdemokratischen Partei Montenegros. Vor zehn Jahren löste er einen Skandal aus, als er Emir Kusturica als serbischen Nationalisten und Milosevic-Anhänger kritisierte, was ihm ein Gerichtsverfahren und eine saftige Geldstrafe einbrachte.
Neben der Detektivgeschichte flechtet Nikolaidis weitere Erzählstränge in den Roman ein. So geht es auch um einen kränklichen Jungen, der im großbürgerlichen Wien aufwächst, um mittelalterliche Häretiker, die Ulcinj als Zufluchtsort nutzten und aus der Gegenwart gibt es Episoden über die deftig-proletarischen Bewohner der Kleinstadt, die in der allgemeinen Panik anfangen, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Das drohende Ende der Welt ist das verbindende Motiv in diesem philosophischen Krimi, der in seiner verspielten und ironischen Komplexität an Jorge Luis Borges erinnert.
Am Ende geht weder die Welt unter noch wird ein Mord aufgeklärt. Alles geht fast genauso so weiter wie zuvor, nur dass nun dicker Schnee die Adriaküste verklebt. „Das Ausbleiben der Katastrophe ist eine Katastrophe, die die Welt letztlich unmöglich gemacht hat“, resümiert der Privatdetektiv in diesem ungewöhnlichen und genialen Kriminalroman. Florian Schmid
Die Ankunft Andrej Nikolaidis Voland und Quist, 150 S., 17.90 €
Homosexualität als Lust
Sachbücher mit in den Urlaub zu nehmen, ist meistens eine schlechte Idee. Weil man den Vorsatz, am Strand etwas für die Bildung zu tun, dann doch aus (berechtigtem) Bedürfnis nach Müßiggang verwirft und man eigentlich viel lieber einen Krimi lesen will, oder einen Roman. Und am Ende des Urlaubs packt man mit schlechtem Gewissen das unberührte Buch wieder in die Tasche und ärgert sich über das unnötige Gewicht. Wie wir begehren von Carolin Emcke kann man, obwohl als Sachbuch bezeichnet, trotzdem einpacken. Weil die Journalistin und Schriftstellerin es so wunderbar versteht, Alltagsgeschichten, Sachwissen und philosophische Betrachtungen in eine Form zu gießen, die zugleich erhellend und unterhaltsam ist. In ihrem Buch geht sie von biographischen Erlebnissen aus, um über Identitätsbildung und Homosexualität nachzudenken. Carolin Emcke lebt „schwul“ (wie sie selbst schreibt) und ist nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch in ihrer Tätigkeit als Kriegsreporterin (sie war 2012 eine der ersten, die nach dem Gazakrieg nach Palästina fuhr) immer wieder mit ihrer Sexualität konfrontiert. Das führt zu grotesken und überraschenden Situationen, die dem heterosexuellen Blickfeld leicht entgehen. Carolin Emcke beschreibt sie gleichermaßen radikal wie einfühlsam. Vor allem aber beschreibt sie Homosexualität nicht als Schicksal, das es zu ertragen gilt, sondern als Lust. Juliane Löffler
Wie wir begehren Carolin Emcke S. Fischer Verlag 256 S., 19,99 €
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