Plötzlich gingen die Lichter aus

Indien Die Mittelschichten sind enttäuscht. Sie können gegen die Regeln einer patriarchalischen Gesellschaft nichts ausrichten
Ausgabe 02/2015

Wie Dibyokamal Mitra, Nabottama Pal und andere Studenten gegen Versäumnisse an einer der wichtigsten Institutionen von Kalkutta protestiert haben – diese Geschichte verdient es, weit über die Grenzen Indiens hinaus gehört zu werden. Es handelt sich um eine ungewöhnliche Mischung aus traditionellem Protest und Präsenz in den sozialen Medien, Polizeigewalt und einer Demonstration, die eine ganze Stadt zum Stillstand brachte. Die Geschichte macht aber auch etwas anderes deutlich: In Indiens Metropolen sind junge Frauen und Männer entschlossen, gegen soziale und moralische Missstände aufzubegehren.

In einem Bericht aus dem Vorjahr legten sogar die Vereinten Nationen ihre übliche diplomatische Zurückhaltung ab und warnten: „In allen Sektoren der indischen Gesellschaft – in Bildung, Arbeit und Freizeit – herrscht eine Mischung aus Verdrossenheit, Unmut und Zuversicht. Das Wachstum der Wirtschaft hat zu keiner Angleichung der Lebensverhältnisse geführt. Die Urbanisierung fordert in einer Weise ihren Preis, dass es eine ganze Gesellschaft in Stücke reißen könnte, wenn die Probleme nicht bewältigt werden.“

Es gibt Zahlen, die ausreichen, um deutlich zu machen, was gemeint ist: In den Städten des Subkontinents leben derzeit 435 Millionen Menschen im Alter zwischen 15 und 34 Jahren – eine Bevölkerung, die größer ist als die der USA, Großbritanniens und Kanadas zusammen.

Unsittlich berührt

Wer wissen will, wie schnell dieses Menschenheer vorwiegend junger Inder zu mobilisieren ist, braucht sich nur anzusehen, was Mitra, Pal und ihre Freunde an der Universität von Jadavpur zustande gebracht haben. Ende September wurden eine Studentin und ihr Begleiter auf dem Campus von mehreren Männern angegriffen. Die junge Frau wurde in ein Wohnheim gezerrt und vergewaltigt, ihr Begleiter brutal zusammengeschlagen. Eine Untersuchung des Falles durch die Universitätsleitung wurde zwar eingeleitet, führte aber zu keinem Ergebnis. Stattdessen sollen einer Anzeige zufolge, die von der jungen Frau bei der Polizei erstattet wurde, zwei an der Universität angestellte Professorinnen zu ihr nach Hause gekommen sein und sie gefragt haben, wie sie an jenem Tag gekleidet war. Daraufhin demonstrierten aufgebrachte Studenten wochenlang jeden Abend friedlich vor dem Büro des Rektors. Mitra spielte auf seiner Geige Improvisationen des Klassikers We Shall Overcome.

Eines Abends entschlossen sich die Studenten, ihrem Rektor Abhijit Chakrabarti den Heimweg zu versperren, indem sie sich vor seinem Büro auf die Erde legten. Dann gingen plötzlich die Lichter aus – und die Aktivisten wurden von der Polizei rüde attackiert und verhaftet. Als die Medien aufmerksam wurden, wollte von der Universitätsleitung niemand den Vorfall kommentieren. In einer Erklärung des Rektors hieß es lediglich, er habe die Polizei gerufen, weil er um sein Leben habe fürchten müssen – was einem angesichts von jungen Leuten, die friedlich auf dem Boden liegen, sonderbar vorkommt. Während die Polizei von „minimaler Gewaltanwendung“ sprach, belegen Videoaufnahmen, dass viele Studenten mit Stöcken geschlagen wurden. Mehrere von ihnen mussten im Krankenhaus behandelt werden, Frauen klagten darüber, von den Beamten unsittlich angefasst worden zu sein.

Nachdem Beweise für die Polizeigewalt zuerst bei Facebook auftauchten und dann im Fernsehen ausgestrahlt wurden, verbreitete sich die Empörung schnell über die Stadtgrenzen hinaus. Drei Tage später wurde das Zentrum von Kalkutta für einen Protestzug der Studenten von Jadavpur gesperrt. Tausende Nicht-Studenten schlossen sich an. Schätzungen gehen von bis zu 100.000 Teilnehmern aus. Auch in anderen Städten des Landes kam es zu Märschen und Kundgebungen. Der Campus von Jadavpur ist bis heute mit Plakaten übersät, auf denen das Bild des Rektors neben der Schlagzeile No negotiations – resignation! (Keine Verhandlung, sondern Rücktritt) zu sehen ist.

Jadavpur ist kein Einzelfall für die brodelnde Stimmung unter jungen Leuten in Indien. In den vergangenen Wochen haben Studentinnen der Aligarh Muslim University in Uttar Pradesh erfolgreich für den Zugang zur Hauptbibliothek demonstriert. Die Verwaltung hatte ihnen den Eintritt mit der Begründung verwehrt, sie könnten die jungen Männer ablenken. Und an der Benares-Hindu-Universität, die sich ebenfalls in diesem Bundesstaat befindet, gerieten Teile des Campus bei einem Meeting für eine Studentenvertretung in Brand.

Alle diese Aktionen wirkten nie sonderlich radikal, sondern wiesen nur auf Versäumnisse und das Unvermögen der Behörden hin, eine Vergewaltigung und schwere Körperverletzung angemessen zu untersuchen, Frauen den Zugang zu sämtlichen Bildungsorten zu gewähren oder eine Studentengewerkschaft zuzulassen. Dass Verbote wie in Kalkutta gewaltsam durchgesetzt werden, ist nichts Neues. Ungewöhnlich ist an der Geschichte lediglich, dass es zu dem beschriebenen Polizeieinsatz an einer Elite-Universität kam. Und es ist neu, dass diesen Missständen mit engagiertem Widerstand begegnet wird: Die Studentenbewegung bedient sich als eine der ersten auf dem Subkontinent des Internets, um Aktivisten zusammenzubringen.

Als in jener Septembernacht plötzlich die Polizei auftauchte, informierte Mitra seinen Freund per SMS über die Ereignisse, die dieser sofort über seine Facebook-Seite weiter verbreitete. Alles wurde unter dem Hashtag #hokkolorob bekannt. Das ist Bengalisch, heißt so viel wie „Lärm machen“ und ist auch der Titel eines beliebten Songs. Nach den Polizeiübergriffen nahm ein Musiker eine Cover-Version auf und stellte sie auf Youtube, wo das Video noch immer heftig geklickt wird.

Abhijit Gupta, Mitras Englisch-Professor, formulierte es so: „Die Behörden können zwar den physischen Raum kontrollieren, doch haben sie keine Chance, den virtuellen Raum zu überwachen.“

Der immer gleiche Frust

In der offiziellen Politik Indiens ist kein nennenswerter Wandel zu erkennen: Funktionäre und Politiker werden auch weiterhin Dinge versprechen, die sie nicht halten. Von den Zahlen und Grafiken, die der oben erwähnte UN-Bericht bereithält, dürfte ein Kreisdiagramm am aussagekräftigsten sein. Es fasst die Antworten junger Berufstätiger in Mumbai und weiteren Städten auf die Frage zusammen, wie sie zu ihrem Job gekommen sind. Knapp 45 Prozent gaben hier „Beziehungen/Familie“ an. Zudem listet die Untersuchung auf, dass im indischen Unterhaus zwei Drittel der Abgeordneten unter 45 Jahren bereits einen nahen Verwandten in der Politik hatten, während die Abgeordneten unter 30 Jahren ihren Sitz sozusagen geerbt haben.

Es bleibt unauflösbarer Widerspruch zwischen den Versprechen von den Möglichkeiten, die sich im neuen Indien eröffnen, und dem alten Eine-Hand-wäscht-die-andere-System. Man muss sich in die Lage eines Inders aus der Mittelschicht versetzen: Seit 20 Jahren erzählt man ihm von den Vorteilen der Liberalisierung, von denen er nur leider überhaupt nichts merkt. Diese Leute haben zumeist eine englischsprachige Schule und danach eine Universität besucht; sie arbeiten jetzt für eine der Wachstumsbranchen. Aber die staatliche Infrastruktur funktioniert nicht, das öffentliche Nahverkehrssystem ist ein Witz. Wer will, dass sein Kind einen Platz in einer guten Schule bekommt, muss jemanden schmieren, damit das gelingt. Unterdessen gehen die Spitzenjobs immer an die gleichen Familien; gleichzeitig kann sich jeder glücklich schätzen, der nicht aus der Mittelschicht abstürzt. Überall in den Megastädten dieses Schwellenlandes erleben die jungen Leute die gleichen Frustrationen, wie sie schon ihren Eltern beschieden waren – nur dass diese Jungen weniger zu verlieren haben, wenn sie ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen.

Aditya Chakrabortty arbeitet als Wirtschaftskommentator für den Guardian

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