Nach Büchern über Romy Schneider und Axel Springer, über Alzheimer und den Ersten Weltkrieg legt der frühere Chefredakteur des Stern nun im Münchner Bertelsmann Verlag eine Bilanz der deutschen Einheit vor. Dazu ist der Hamburger vor allem durch den Osten Deutschlands gereist, um vergessene und unvergessene Helden der Revolution von 1989 zu treffen und sie nach ihrer Einschätzung zu befragen und dabei etwas in die historischen Vorgänge zu leuchten. Angeblich hat er dabei auch "bislang geheime Dokumente wie den tatsächlichen Schießbefehl" an der innerdeutschen Grenze entdeckt, verspricht der Klappentext. Was auch vom Autor noch mal im Prolog betont wird.
Doch wer auf tatsächlich Neues hofft, sieht sich bald enttäuscht. Die Gesprächs
rächspartner Joachim Gauck und Gregor Gysi, Lothar de Maizière und Wolfgang Berghofer, Angela Merkel und Matthias Platzeck, Egon Bahr und Henning Voscherau erzählen im wesentlichen das, was man von ihnen auch schon in den letzten 18 Jahren an der einen oder anderen Stelle lesen und hören konnte. Garniert wird das Ganze mit unbelegten Angaben zum gefühlten Stand der Einheit, wonach angeblich 70 Prozent der Ostdeutschen Angst vor gesellschaftlicher Veränderung hätten und 80 Prozent der Westdeutschen nicht mehr für den Aufbau Ost zahlen wollen. Irgendeinen Quellenverweis sucht man im ganzen Buch vergebens. Dafür gibt es Klischees ohne Ende, wie man sie bereits sattsam aus seinem früheren Buch Typisch Ossi, typisch Wessi - Eine längst fällig Abrechnung unter Brüdern und Schwestern (zusammen mit Angela Elis) aus dem Jahr 2005 kennt. So wird einem auch 2008 noch die Mär vorgesetzt, dass es in der DDR üblicherweise Plumpsklos im Hausflur statt Toiletten in der Wohnung gegeben haben soll und die Ostdeutschen beim Einkaufen "immer (!) entschlossen in einer Schlange standen, ganz egal, was zufällig im Angebot war". Derart im ersten Kapitel eingestimmt, wundert man sich dann auch nicht über den kühnen Ritt durch verschiedene Regionen und Milieus, wobei es zu den "Kanalratten des SED-Systems" genauso geht wie zum "Nazisumpf", zu den "Stasi-Vereinen der Ewiggestrigen" und den Mitarbeitern der Birthler-Behörde. Bei der Behandlung des 2007 in der Stasiunterlagen-Behörde angebliche erstmals entdeckten Schießbefehls verweist Jürgs zu Recht auf die falsche Aufregung, die damals die Medien beherrschte, denn das Dokument war bereits zehn Jahre zuvor von Matthias Judt im Handbuch DDR-Geschichte in Dokumenten veröffentlicht worden. Wie peinlich, dass Jürgs nun mit seinem "bislang geheimen Schießbefehl" genau das gleiche Schicksal widerfährt. Der auf Seite 34/35 seines Buches im Wortlaut abgedruckte Befehl des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom Oktober 1961 ist ebenfalls ein alter Hut und bereits mehrfach publiziert worden. Man kann ihn bei Volker Koop nachlesen (Den Gegner Vernichten - Die Grenzsicherung der DDR, Bonn 1996) und in Auszügen sogar im Lexikon des DDR-Sozialismus aus dem Jahr 2007 nachschlagen.An diesem Fall wird exemplarisch deutlich, wie tief die Recherchen gegangen sind. Das wird auch an vielen anderen Fehlern spürbar, die einem die sonst ganz flott zu lesenden Reportagen dann letztlich verleiden: Der genossenschaftliche organisierte Konsum betrieb bekanntlich keine HO-Läden, das hätte sich die staatliche Handelsorganisation nie bieten lassen, die SED-Bezirkszeitung wurde nicht vom Presseamt beim Ministerrat angeleitet, sondern direkt vom SED-Zentralkomitee, an der Grenze kontrollierten keine Vopos (also Volkspolizisten), sondern Offiziere der Stasi-Passkontrolleinheiten in Uniform der Grenztruppen. Und Christoph Hein hielt seine denkwürdige Rede über die menschenfeindliche Zensur nicht auf dem XX. Schriftstellerkongress 1988, sondern auf dem X. im Jahre 1987, denn mehr gab es nie in der DDR.Diese Fakten sind keine besonderen Insiderkenntnisse, sondern in der reichlich publizierten Literatur zur ostdeutschen Geschichte inzwischen für jedermann nachlesbar, man muss sich nur die Mühe machen. Dass man sich in ein neues Thema aber gründlich einarbeitet, darf man wohl von einem renommierten Journalisten erwarten und ein großer reicher Verlag sollte es sich auch leisten können, einen kenntnisreichen Fachlektor mit der Betreuung eines solchen Manuskriptes zu beauftragen.Am Ende bekennt Michael Jürgs, dass seine Bilanz "vorläufig und subjektiv" ausgefallen sei und er eigentlich nur "vermuten könne, dass die Einheit beim Volk angekommen ist". Eine Normalität zwischen Ost und West auf dem Niveau der Unterschiede von Nord und Süd erwartet er für die nächste Generation, "wenn die wahren Kinder der Einheit, die beim Mauerfall drei, vier, fünf Jahre alt waren, die Gemütslage der Nation bestimmen". Aber diese Hoffnung hören wir nun auch schon seit mehr als zehn Jahren und sie war uns bereits vor der Lektüre des Buches vertraut. Schade.Michael Jürgs Wie geht´s, Deutschland? Populisten, Profiteure, Patrioten. Eine Bilanz der Einheit. C. Bertelsmann, München 2008, 368 S., 19,95 EUR