Plutos vier Gänge

Treue Die Treue hat sich rar gemacht in unserer Gesellschaft, ist kaum noch gefragt, und - wir wollen es nicht verhehlen - für die meisten ist sie nur noch ...

Die Treue hat sich rar gemacht in unserer Gesellschaft, ist kaum noch gefragt, und - wir wollen es nicht verhehlen - für die meisten ist sie nur noch die zur Moral erstarrte Liebe von gestern. Das wäre Dornröschen so ergangen, Aschenputtel, und bei Romeo und Julia wäre es irgendwann auch so gekommen. Von Nachtigallen wäre kein Säuseln mehr gewesen. Zu gegebener Zeit wäre ein sanfter Wind über die Lombardei nach Verona gegangen und hätte das T aus der Treue einfach weggepustet. Dann hätte es nur noch geheißen: "Es war die Lerche! Wenn ich es dir doch sage, es war die Lerche!" Mit anderen Worten: Verschwinde! Aber avanti! Doch, doch, so wäre es gekommen.
Gewissermaßen ist die Treue ein Waisenkind der Liebe und überdies schnell gelangweilt und leichtlebig. Besäuft sich gern am Alltag und irrt dann mit 2,0 Promille wie ein kleines, betrunkenes Flattergespenst auf Speed durch die Welt. Festhalten lässt sie sich dann nicht mehr.
Allen Unkenrufen zum Trotz: Es gibt sie. Kürzlich hat sie sich wieder in der Öffentlichkeit gezeigt. Und zwar in Gestalt eines Hundes.
Der Hund hat einen Namen und die Geschichte eine anrührende Tragik, und wir würden die Treue in diesem Falle nicht so sehr erzählenswert finden, käme sie unter den Menschen öfter vor.
Der Hund heißt Pluto und gehörte dem alleinstehenden Seemann Arnold Millard aus dem nordenglischen Featherstone. Nach seiner Pensionierung hatte es sich der Seemann zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag zur gleichen Zeit vier Pubs nacheinander aufzusuchen und in jedem eine Tüte Kartoffelchips und ein großes Glas Bier zu bestellen. Er teilte sich beides stets mit Pluto. Nun versagte Millards Herz; sei es wegen des Biers, der Kartoffelchips oder dem alleinstehend. Er hat die Segel eingezogen und ist für immer auf große Fahrt gegangen. Ohne Pluto, versteht sich. Die Kneipenwirtin Mary Sharpe nahm sich des vierzehn Jahre alten, kurzbeinigen und übergewichtigen Terriers an. Auch hier ist Treue zu vermuten, zumindest aber ist Herz im Spiel. Aus welch anderen Gründen würde sich Mary Sharpe des Tiers annehmen? Pluto ist ja zahlungsunfähig. Das nehmen wir zumindest an.
Hier könnte die Geschichte ihren Anker werfen, aber weiß Gott, sie wäre lauwarm und würde nicht dazu taugen, das sturmerprobteste Seemannsherz zu erschüttern. Denn wir ermitteln ja in Sachen Treue, der großen, der wahrhaftigen Treue und müssen deshalb Pluto folgen.
Und der beweist, dass dauerhafte Liebe durchaus etwas mit Routine zu tun haben kann, ja, vielleicht auch daraus erwächst. Denn der in die Jahre gekommene, übergewichtige Pluto setzt sich jeden Mittag in Bewegung und klappert, wie dazumal mit seinem Herrchen, die vier Lokale in ihrer Reihenfolge ab. Und natürlich lohnt sich sein Gang, denn in jeder Kneipe wird er selbstverständlich von den Stammgästen und Wirten mit Chips und Bier bedient; genauso, als wäre sein Herrchen, der alte Arnold Millard, noch an seiner Seite. Aber kein Seemannsgarn kann und darf lang genug sein, um der Realität ein Schnippchen zu schlagen und der Illusion eine Schaumkrone zu verpassen. Sei sie nun aus Hopfen und Malz oder Gischt.
Stunden später trottet - torkeln ist eher unwahrscheinlich, denn Hunde gehören zoologisch gesehen zu den Zehengängern - Pluto dann wieder nach Hause. Es entzieht sich unserer Kenntnis, in welchem Zustand Pluto sich dann befindet. Vielleicht hat er ja ordentlich einen drauf gemacht? Vielleicht lässt er ja jetzt, wo der alte Arnold Millard - Gott habe ihn selig - tot ist, mal so richtig die Sau raus? Wir wollen uns nicht in schmutzigen Spekulationen ergehen und schnell die Leinen einholen.
Mary Sharpe zeigt Verständnis für ihren Vierbeiner: "Er ist mit dieser Routine aufgewachsen, er kann gar nicht anders."
Was sie Routine nennt, ist in Wirklichkeit Liebe, was sie nicht-anders-können nennt, ist in Wirklichkeit Treue. Aber so sind die Menschen, sehen die Dinge immer ganz nüchtern. Jedenfalls lohnt es sich, in Sachen Treue zu ermitteln. Pluto hat´s bewiesen. Von seiner Leber wollen wir uns mittlerweile kein Bild mehr machen. Aber sein Herz ist so groß und wiegt so schwer, das kann nur von vier Pfoten getragen werden.

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