Ich habe mich nicht gewundert, als vor 30 Jahren in Rostock-Lichtenhagen das Sonnenblumenhaus brannte“, sagt Van P. „Es war eine schlimme Zeit.“ Der Mann, er ist Mitte 60, hatte in der DDR ein Ingenieurstudium absolviert und arbeitet heute als Dolmetscher. An die Zeit unmittelbar nach der Wende erinnert er sich mit Grauen. „Ich habe in Chemnitz gelebt, und es gab auch dort viele ausländerfeindliche Vorfälle gegen meine Landsleute“, sagt er. Er selbst habe erlebt, dass Jugendliche auf das Auto gespuckt hätten, in dem er saß. Das sei noch eine der harmlosen Sachen gewesen, sagt P. – Freunde habe es schlimmer erwischt als ihn.
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992, das sich in diesen Tagen zum 30. Mal jährt, war nicht vom Himmel gefallen. Vietnamesen waren die größte nichtdeutsche Gruppe in den neuen Bundesländern. 1990 hatten in der DDR 60.000 vietnamesische Vertragsarbeiter gelebt. 16.000 sind geblieben. Für die meisten von ihnen war trotz Rassismus das Leben im Nachwendedeutschland das kleinere Übel im Vergleich zu dem im damals noch bitterarmen Vietnam, wo man an Infekten starb, weil es keine Antibiotika gab.
Anders als Van P. hat Son L., Ende 50, der damals in Dresden einen Verkaufsstand für Textilien betrieb, von dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen gar nichts mitbekommen. „Ich konnte ja noch kein Deutsch, hatte keinen Fernseher und auch keine Zeit zum Fernsehen“, sagt er. „Hätte ich davon erfahren, hätte es wahrscheinlich die Erfahrung bestätigt, die ich in Dresden selbst machte“, sagt der Mann, der heute in Berlin mehrere Imbissstände betreibt. Welche Erfahrungen? Er winkt ab, füllt Nudeln in eine Tüte. „Daran will ich mich gar nicht erinnern. Die Zeit ist zum Glück vorbei.“ Jetzt müsse er arbeiten, könne nicht weiterreden, „vielleicht erzähle ich Ihnen das mal, wenn ich Rentner bin“.
Von Skinheads erschlagen
Es war der in Frankfurt/Oder aufgewachsene Journalist Christian Bangel, der der unmittelbaren Nachwendezeit den Namen „Baseballschlägerjahre“ gab – nachdem er im Freitag einen autobiografischen Text des ostdeutschen Rappers Hendrik Bolz gelesen hatte (der Freitag 41/2019). Rechtsextremistische Denkweisen schlugen nach dem Ende der DDR in brutale Gewalt um. Die Jugendkultur in vielen ostdeutschen Kommunen dominierten Rechtsextremisten, sie ließen Andersdenkenden keinen Raum. Anders Aussehenden noch weniger. Im Dezember 1990 entlud sich die Gewalt im Brandenburger Eberswalde, wo der angolanische Vertragsarbeiter Amadeo Antonio von Skinheads erschlagen wurde.
Im September 1991 bewarfen Rechtsextremisten über Tage Wohnheime für mosambikanische und vietnamesische Vertragsarbeiter sowie für Asylbewerber im sächsischen Hoyerswerda mit Steinen und Molotowcocktails. Die Polizei griff kaum ein. Das Landratsamt kam zu der Einschätzung, „dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann“. Somit ließen die Behörden die Vertragsarbeiter abschieben und die Asylbewerber auf andere Kommunen verteilen. Am April 1992 wurde in Berlin-Marzahn der Vietnamese Nguyen Van Tu von Rechtsextremisten auf offener Straße ermordet.Placeholder infobox-1Das ist nur ein Teil der öffentlich gewordenen Fälle vor dem August 1992. Menschen, die wie Vietnamesen auf den ersten Blick als „Nichtdeutsche“ gelesen werden, haben vor allem (aber nicht nur) in den ostdeutschen Bundesländern zahlreiche weitere Gewalterfahrungen gemacht, die sie nicht immer zur Anzeige brachten oder die von der Polizei kaum verfolgt wurden. Sie wurden abends an Bahnhöfen zusammengeschlagen, bespuckt oder bedroht. Viele haben sich damals mit selbst hergestellten Schlagwerkzeugen bewaffnet, weil sie sich anders nicht schützen konnten. 28 Angriffe auf Asylbewerberheime und andere Wohnheime für Nichtdeutsche wurden allein in Mecklenburg-Vorpommern vor dem August 1992 registriert. Darunter Steinwürfe, Brandanschläge, Molotowcocktails und der Einsatz von Schusswaffen durch rechtsextreme Jugendliche. Der Dolmetscher Van P. berichtet, dass die vietnamesischen Vertragsarbeiter in Hoyerswerda immer frisch gekochtes Wasser im Wohnheim hatten, um Angreifer damit zu übergießen und zu verbrühen, falls diese ins Wohnheim gekommen wären.Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen war der traurige Höhepunkt der rechtsextremen Gewalt. Rostock erinnert mit zahlreichen Veranstaltungen an die Ereignisse vor 30 Jahren. Am 25. August wird es im Rathaus eine Gedenkveranstaltung mit dem Bundespräsidenten geben. Außerdem eine Fotoausstellung, Stadtrundgänge durch Lichtenhagen mit historischen Erklärungen und Workshops für Schüler. „Das Pogrom ist Teil unserer Stadtgeschichte“, sagt der stellvertretende Oberbürgermeister Chris von Wrycz Rekowski. „Für uns und alle nachfolgenden Generationen bleibt die wichtige Aufgabe, Rassismus und Hetze gegen nationale, religiöse und ethnische Minderheiten zu verurteilen. Dieser Teil unserer Geschichte darf sich nie wiederholen.“ Und die Vietnamesen? Vu Thanh Van ist Vorsitzende des Vereins „Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach“, der sich im Anschluss an das Pogrom mit Unterstützung der Stadt gründete. Sie sagt, dass einige der damaligen Zeitzeugen an der Gedenkveranstaltung im Rathaus teilnehmen werden. Das war bei der Gedenkveranstaltung vor zehn Jahren anders. Auch damals hatte sich die Stadt redlich darum bemüht, Betroffene einzuladen. Aber nur eine Frau war bereit zu kommen: Mai-Phuong Kollath.Exkremente am HausDie anderen lebten entweder längst woanders oder hatten Scheu, in die Öffentlichkeit zu treten. Die Sozialpädagogin und Schauspielerin Mai-Phuong Kollath, die als Vertragsarbeiterin in Rostock in der Hafenküche arbeitete, wurde das Gesicht der Rostocker Vietnamesen. Vor zehn Jahren hat sie vor der Presse gesagt, sie wolle auf der Ehrentribüne, neben dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, sitzen: „Ich will mich zeigen. Das ist mir wichtig.“ Fünf Jahre später erklärte sie der taz, sie müsse immer wieder ihre „Stimme erheben und Gesicht zeigen als Vietnamesin aus Ostdeutschland“ – weil das niemand sonst tue.Die vor wenigen Jahren von Rostock nach Berlin gezogene Frau erzählt von ihrer Geschichte als Vertragsarbeiterin und von den Ereignissen 1992 in Rostock-Lichtenhagen auch auf der Bühne zweier Berliner Theater, in dokumentarischen Theaterstücken. Gesprächsangebote der Medien zum Thema Lichtenhagen lehnt sie inzwischen ab. Dem Freitag schreibt sie, sie habe fast 30 Jahre lang „schon so viel gesagt. Ich will und kann das nicht mehr.“Mit Nguyen Do Thinh, der 1992 die Flucht der über 100 Menschen aus dem brennenden Haus gemanagt hatte, gab es einen Zweiten, der über Jahre mit Journalisten darüber sprach. Er hat sich zurückgezogen. Der Zeit sagt er: „Irgendwann war ich müde, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Ich werde, wenn ich von Lichtenhagen erzähle, bis heute emotional.“Der Hamburger Dan Thy Nguyen war 1992 sieben Jahre alt und wohnte in einem Asylbewerberheim in Nordrhein-Westfalen. Fremdenfeindliche Gewalt hat er auch dort erlebt, sagt er: „Hundeexkremente wurden an das Gebäude geschmiert, Leute zeigten mir den Hitlergruß.“ Der Vater hätte mit dem Jungen Selbstverteidigung trainiert, damit er sich im Notfall behaupten könne. Inzwischen ist Nguyen Theaterregisseur und hat die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen zu einem seiner Themen gemacht. Er führte vor Jahren Interviews mit Mai-Phuong Kollath, Nguyen Do Thinh und einigen wenigen anderen Rostocker Vietnamesen, die anonym bleiben wollen. Daraus entstanden ein Theaterstück sowie ein Hörspiel namens Das Sonnenblumenhaus, benannt nach dem Wohnheim für die vietnamesischen Vertragsarbeiter, das 1992 angegriffen wurde. Die Scheu vieler Betroffener, über das Erlebte von damals zu sprechen oder sich bei Veranstaltungen der Stadt zu zeigen, erklärt er mit der konfuzianistischen vietnamesischen Kultur. „Es wird als etwas Gutes angesehen, wenn man zurücktritt. Das ist dann mit dem deutschen Verständnis von Öffentlichkeit schwer vereinbar.“ Ob sich das Pogrom in das kollektive Gedächtnis ostdeutscher Vietnamesen eingeprägt hat? Eher nicht. Duc Nguyen von der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg sagt dem Freitag: „Das Thema haben wir nicht auf dem Schirm.“ Wichtiger seien die eigenen Rassismus-Erfahrungen in den 1990er Jahren und die von nahen Freunden.Anders in Nürnberg. The Bao Nguyen ist der Vorsitzende der Vereinigung vietnamesischer Flüchtlinge aus Nürnberg und Umgebung. Sein Verein werde Ende August eine Gedenkveranstaltung für die Vietnamesen aus Lichtenhagen durchführen. „Wir werden für sie beten und über sie sprechen“, sagt er. 1992 studierte der Ingenieur, der im Alter von zwölf Jahren als Bootsflüchtling nach Deutschland gekommen war, in München und verfolgte die Ereignisse im Fernsehen. „Ich wusste, dass es im Osten mehr Diskriminierung gab. Aber dass Menschen dem Mob Beifall spendeten, der ein Haus anzündete, das war für mich unvorstellbar.“ Nguyen dachte kurz über Auswanderung nach, ein Jobangebot aus Kanada lag vor. „Aber dann gab es eine Lichterkette in München. Menschen haben sich an den Händen gehalten und einander versprochen, so etwas nicht zuzulassen. Ich war Teil davon. Da empfand ich zum ersten Mal Stolz, ein Deutscher zu sein.“