Politisch oder moralisch falsch?

Hitler-Stalin-Pakt In Russland gibt es zwei konträre Positionen zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Die einen reden von einem verbrecherischen Komplott, die anderen von nötiger Interessenpolitik

Zum Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes haben sich in Russland viele politische Analysten und Zeitgeschichtler zum Thema geäußert. Noch 70 Jahre später gehen die Meinungen sehr weit auseinander darüber, ob die Sowjetunion damals politisch klug und im eigenen Interesse handelte, als sie den Nichtsangriffspakt mit Deutschland unterzeichnete. Für Rostislaw Ischtschenko etwa, den Präsidenten des Zentrums für Systematische Analyse und Prognose, hat die Sowjetunion am 23. August 1939, einen großen Sieg errungen. Josef Stalin habe die Lage insgesamt richtig beurteilt und im Fahrwasser der damals üblichen moralischen und diplomatischen Regeln gehandelt. Hitler konnte keinen Zwei-Fronten-Krieg riskieren und diesen Umstand musste man ausnutzen. Ähnlich äußert sich RIA-Nowosti-Kommentator Pjotr Romanow, der meint, das damalige Doppelspiel von Franzosen und Briten habe den Kreml vor die Wahl gestellt, entweder moralisch richtig, aber politisch falsch zu handeln und auf eine Annäherung mit Hitler zu verzichten – oder aber unmoralisch und politisch vernünftig zu verfahren. Die Unterzeichnung des Dokuments habe es ermöglicht, den Faschisten unter besseren Bedingungen zu begegnen.

Diesen Standpunkt vertritt auch Valentin Falin, einst sowjetischer Botschafter in Bonn. Ihm zufolge hat die Einverleibung zusätzlicher Gebiete, mit denen die sowjetische Grenze nach Westen im September 1939 gerückt wurde, der UdSSR einen immensen strategischen Vorteil gebracht. Als die Wehrmacht im Juni 1941 angriff, sah sie sich gezwungen, gegen den erbitterten Widerstand der Roten Armee in den angeschlossenen Territorien vorzurücken.

Ein grobes Delikt

Was patriotische Publizisten eine unmoralische, aber letzten Endes notwendige Politik nennen, wird von den liberalen Geschichtsforschern als grobes völkerrechtliches Delikt angeprangert. So schreibt Denis Babitschenko in der Zeitschrift Itogi, dass die UdSSR nach der Unterzeichnung des Vertrages die Rolle eines Aggressors gespielt habe und erst später selbst Opfer einer Aggression geworden sei. Mehr noch: Der Autor gelangt zu einem für den einfachen russischen Leser schockierenden Schluss: „Es ist nicht leicht, auf der Ebene des Massenbewusstseins zu begreifen, dass der Molotow-Ribbentrop-Pakt in einem großen Maße der Entfesselung des Krieges diente.“ Diese These wird indirekt vom oben erwähnten Pjotr Romanow geteilt, wenn er am Ende seines Artikels schreibt, dass Deutschland im August 1939 die Rote Armee als Rivalen ausgeschaltet habe und von der ersten Kriegsphase in Europa fernhalten konnte.

Theorie vom Präventivschlag

Dieses Fazit kann als ein notwendiges Gegenargument in einer Debatte aufgefasst werden, wenn die Frage aufkommt, ob Stalin Hitler habe überfallen wollen. Diese These fand vor zehn Jahren ein großes Echo in Russland, als Viktor Suworows Buch Der Eisbrechererschienen war. Der Autor behauptete, es gäbe offene Quellen in Russland, denen sich entnehmen lasse, dass gerade Stalin geplant habe, gegen Deutschland in die Offensive zu gehen. Viktor Suworow ist das Pseudonym von Wladimir Resun, eines in den Westen gewechselten Aufklärers des russischen Auslandsgeheimdienstes GRU.

Wie kaum anders zu erwarten, spaltete diese Auffassung die Geschichtsforscher in zwei Lager. So ist der Direktor des Institutes für Russische Geschichte, Andrej Sacharow, der Auffassung, dass die von Suworow dargelegte Version von einer Vorbereitung der UdSSR auf den Angriffskrieg eine bewiesene Tatsache sei. Ein anderer angesehener Historiker, Akademiemitglied Alexander Tschubarjan, hingegen kennt keine dokumentarischen Beweise für die Theorie vom Präventivschlag. Er spricht lediglich von einer Politik, mit der seinerzeit versucht wurde, dem defensiven Denken der russischen Bevölkerung entgegen zu wirken.

Tschubarjan beruft sich auf Wissenschaftler im Westen, die Suworows Version ablehnen. In einem Interview gleichfalls mit Itogi meinte er kürzlich auf die Frage, ob Stalin mit der Unterzeichnung des Paktes vor 70 Jahren einen Fehler gemacht habe: „Hitler hatte 1939 alle überlistet, aber letztendlich verloren.“ Trifft demnach die Aussage des Joseph Fouché, eines französischen Politikers aus der Zeit Napoleons, auf Stalin zu, wonach ein politischer Fehler mehr sei als ein Verbrechen? Wie auch immer, der Molotow-Ribbentrop-Pakt war eine Art russisches Roulette, das Stalin und Hitler gespielt haben. Bezeichnenderweise traf die letzte Kugel aus der Revolvertrommel den „Führer“ in die Schläfe.

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