Politische Puppen

A–Z Selbst die Möhre hat sich noch zu #allesdichtmachen geäußert. Bei „Spitting Image“ und „Kukly“ ließen Thatcher und Jelzin früher richtig die Sau raus. Unser Lexikon
Ausgabe 18/2021

A

Alte weiße Männer Wenn schon, dann ist Kermit ein alter weißer Frosch. Die Opas aus der Muppet Show sind eher steinalt und ihr Sarkasmus unsterblich. Statler und Waldorf finden das Varieté (Zauber) stets unterirdisch, was es ja auch ist. Es sind Männer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dabei waren, was vieles entschuldigt. Höchstvermutlich humanistisch gebildet, kommentieren die zwei die Verflachung der Kultur, ach, würde doch mal Jazz gespielt werden. Ihre Dauerkarten für die Loge würden sie freilich nie aufgeben. Dafür ist der Quatsch zu lustig, eine Einschlafhilfe allemal.

Die deutsche Synchronfassung trübt etwas den „New Yorker Charme“ der Herren. Und man wundert sich heute, was man damals komisch fand. Disney hat die Muppets jüngst mit einem Warnhinweis versehen. Falls ein AWM nun nörgelt, beleidigend ist so ein Denkanstoß ja erst mal nicht. Katharina Schmitz

E

Ernie und Bert Die Frage nach dem Beziehungsstatus von Ernie und Bert ist so alt wie ihre Massivholzbetten mit den eingeschnitzten Initialen E und B im Kopfteil. Ist das wirklich eine Armlänge Abstand zwischen den Bettgestellen? Fest steht, dass sich die beiden wie ein altes Ehepaar benehmen. Man denke nur an die Episode, in der Bert nicht einschlafen kann, weil Ernie den Wasserhahn nicht ordentlich zugedreht hat. Endgültig politisch wurde ihr Verhältnis, als der New Yorker sie im Juli 2013 auf sein Cover hob, nachdem der Supreme Court zwei Urteile zugunsten der Homo-Ehe gefällt hatte: Da sitzen die beiden vor ihrem Röhrenfernseher und schauen sich die Nachrichten an, Ernies Kopf lehnt sanft an Berts Schulter. Moment of Joy heißt die Illustration des Künstlers Jack Hunter. Viele brachte das natürlich auf die Palme, und die Produzenten der Sesamstraße wurden mal wieder nicht müde, zu erklären, ihre Puppen hätten keinerlei sexuelle Orientierung. Das aber glaubt ihnen doch kein Kind. Christine Käppeler

H

Herzfaden Bei Kindermärchen im Nachkriegsdeutschland denkt man wohl eher an Eskapismus als an politische Relevanz. Und doch muss sich beides nicht völlig ausschließen. Die Augsburger Puppenkiste wurde 1948 nicht zuletzt dafür gegründet, den geschundenen Kriegsseelen etwas Trost zu spenden, wie Thomas Hettche in seinem Roman „Herzfaden“ erzählt. Das geschah zunächst mithilfe von Grimm’schen Märchen wie dem vom gestiefelten Kater. Bald schon aber suchten die Trümmerkinder der Puppenkiste nach gegenwärtigeren Stoffen und fanden sie in Saint-Exupérys existenzialistischer Fabel vom kleinen Prinzen oder in Michael Endes Parabel der NS-Ideologie, Jim Knopf.

Die meisten Kritiker waren begeistert von Hettches Reeducation-Geschichte und sahen die perfekte „Allegorie“ der Nachkriegsgesellschaft. Nur leider viel zu glatt sei die geraten, hielt Katharina Teutsch im Merkur dagegen und sprach stattdessen von „Entnazifizierungskitsch“, der die blinden Flecken der Vergangenheit überdecke und auf den sich deswegen alle einigen könnten. Ein Glück, dass Dr. Kasperl und Co. heute trotzdem politische Verantwortung übernehmen (Kasper) und uns allen den Corona-Popeltest erklären. Tom Wohlfarth

K

Kasper „Wutzsch!“ Hernieder saust die Kasperklatsche, hinüber ist die Wachtmeisterrübe. Ziemlich derbe ging es zu im traditionellen Handpuppentheater. Der Sympathieträger dieses jahrhundertealten Volkstheaters war der Kasper. Oder Mr. Punch, Pulcinella oder Petruschka – die Kasperfigur gibt es weltweit. Chaotisch, aber gut im Geiste, lehnte er sich gegen die Natur – das Krokodil – und die staatliche Ordnung auf. Wie der Fasching hatte das anarchisch-archaische Puppentheater entlastende Ventilwirkung. Aufgestaute und unterdrückte Aggressionen bauten die Zuschauer hier lachend ab. Erst später wurde der komische Kauz ein ausdrücklicher Kinderstar: „Seid ihr alle da?“ Dadurch ließ sich die Figur aber auch instrumentalisieren, schließlich griff sogar die Polizei zur Handpuppe. Der Verkehrskasper ward geboren. Und aus der Herrschaftskritik von einst wurde Verkehrserziehung.Tobias Prüwer

Kukly Politische Satire hatte es in der Sowjetunion seit den 1920er Jahren nicht mehr gegeben. Noch Mitte der 1990er erlebten es viele als Tabubruch, als eine Latex-Puppe mit den Gesichtszügen des damaligen Präsidenten Boris Jelzin auf dem Bildschirm erschien. Anders als die Vorbilder in Großbritannien (Spitting Image) und Frankreich ließ Chefautor Wiktor Schenderowitsch die Puppen nicht in Nachrichten-Formaten auftreten, sondern steckte sie als „Schauspieler“ in tagesaktuell adaptierte Stücke wie Gorkis Nachtasyl oder Filmparodien nach Quentin Tarantino. Putin erschien Anfang der 2000er als „Klein Zaches“, frei nach E. T. A. Hoffmann – was die Sendung nur um Monate überlebte. 2002 wurden die Kukly eingestellt. Barbara Schweizerhof

L

La Poupée 1933 konstruiert der Berliner Surrealist Hans Bellmer aus Pappmaché und Gips seine erste Puppenfigur, die er fotografisch inszeniert. Bellmers Denken kreist fortan einzig um eine Idee: die erotische Inszenierung des weiblichen Körpers in der Verkörperung seines deformierten Stellvertreters. Immer wieder wurde Bellmers Werk politisch interpretiert – als künstlerische Antwort auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und ihr Körperbild. Sein Surrealismus erkannte – Bataille vorwegnehmend – die Funktion des Sexuellen in politischer Schärfe: ein Lebensbereich, der staatlicher Kontrolle nicht gänzlich unterliegt und damit probates Mittel ist, die sinnlichen Versagungen und Repressionen der Arbeitskultur anzugreifen. Marc Peschke

M

Möhre 2020 entdeckte ich die Echse. Die Echse spielte mit Badeenten die Pandemie nach. Ich war begeistert: Es gibt rotzfreche Satire über die Pandemie. Ich fühlte mich an Harald Schmidt erinnert, der mit Playmobil-Figuren hantierte. Dann verlor ich die Echse aus den Augen. Vorige Woche entdeckte ich die Möhre. Sie trägt „Ostberlin“ in Frakturschrift auf der Jacke und ist „Sicherheitsbeauftragter“.

„Ick hab lang einen Kloß im Hals gehabt, aber jetzt muss dit raus“, ereifert sich die Möhre über #allesdichtmachen. „Meinste, da haben die mal eine Lösung anjeboten?“ Man kennt die Kritik. Hier mit sich überschlagender Stimme vorgetragen. Es ist die Stimme des Subjekts in der Krise. „Subjekt“ heißt auf Lateinisch „der Unterworfene“, aber wir wollen darunter lieber ein autonomes Wesen verstehen. Dieser Widerspruch wird in der Möhre deutlich, der Berliner Akzent macht ihn urkomisch. Ihr Schöpfer Michael Hatzius schloss 2006 die Ernst-Busch-Hochschule mit einem Diplom für Puppenspieler ab. Michael Angele

P

Pinocchio Das Erstaunlichste an Pinocchio ist eigentlich nicht seine verräterische Nase, die mit jeder Lüge länger wird. Die Puppe, die von einem Tischler aus einem sprechenden Holzklotz herausgeschält wurde, ist in Gänze ein Kuriosum. Schnell entwischt sie ihrem Schöpfer und erlebt allerlei Abenteuer beim Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Rennen. So weit der Roman von Carlo Collodi. Längst aber ist der lustige Kerl – sein Name bedeutet Dummköpfchen – zum Symbol des plumpen Lügners und Aufschneiders geworden. AfD & Co. sprechen mitunter von der „Pinocchio-Presse“, um das vorbelastete Wort „Lügenpresse“ zu vermeiden. Auch wenn es das Gleiche meint.

Sie stellen Politiker nichtrechter Parteien auch gern als Marionetten dar, diffamieren sie als von finsteren Interessen fremdgesteuerte Akteure. Die angeblichen Strippenzieher kann sich jeder selbst ausmalen. Aufklärung täte not. Die kann Pinocchio tatsächlich bieten, denn das Buch ist gar nicht für Kinder, sondern soll erwachsene Leser dazu anregen, sich an die eigene Nase zu fassen. Tobias Prüwer

S

Spitting Image Sich über die Mächtigen zu amüsieren, war immer schon das vornehmste Privileg des einfachen Volkes. Vor allem dann, wenn man wenig zu lachen hatte, so wie die Briten in den 1980er Jahren, als unter Mrs Thatcher der realkapitalistische Umbau der Gesellschaft begann. Und so wurde Spitting Image als moderne Adaption des Punch-and-Judy-Theaters (Kasper) geboren: groteske Gummipuppen mit abstoßenden Gesichtszügen, die zwölf Jahre lang ein erbarmungsloses Schauspiel entfalteten. Die erste Sendung lief im Februar 1984 beim BBC-Konkurrenten ITV.

Das war zwar zwei Jahre später, als die Titanic den Oggersheimer als „Birne“ zu schmähen begann, aber die furiose Satire aus London stellte in ihrer beißenden Verspottung der englischen Upperclass-Regierungsmitglieder alles in den Schatten: Thatcher etwa wurde als überhebliche Tyrannin in Männerkleidung karikiert, die Herrenpissoirs benutzt und vom ältlichen Hitler politischen Rat einholt. (Wäre dergleichen heute möglich?) Gefundenes Fressen für die Macher war auch die damals noch sakrosankte Royal Family, die sich über die üblen Karikaturen, so berichtete Lady Diana, not amused zeigte. Überflüssig war das im Oktober 2020 versuchte Comeback bei Sky. Mit den Polit-Clowns, die sich das Volk heutzutage in die höchsten Ämter wählt, ist die Realsatire ja längst ins Weiße Haus beziehungsweise in 10 Downing Street eingezogen. Den Rest erledigt die anarchische Satire im Internet. Uwe Schütte

T

Terrorist „Silence – I kill you!“, krakeelt ein verkohltes Skelett mit Turban und buschigen Augenbrauen: Achmed, der tote Terrorist. Ins Rampenlicht geführt von Jeff Dunham, einem US-amerikanischen Bauchredner. Achmed ist ein dschihadistischer Selbstmord-Attentäter, er starb jedoch vorzeitig beim Telefonieren mit seiner Handybombe an einer Tankstelle, wobei die Kraftstoffbude in die Luft flog. Dort kam auch Achmeds schwuler Sohn ums Leben, der ihn im Rahmen des „Bringt eure Kinder mit zur Arbeit“-Tages begleitete. Dunhams Auftritte erreichen bei Youtube über 30 Millionen Aufrufe.

„Mach dich nie über Gruppen von Menschen lustig, sondern über Einzelpersonen“, sagt Dunham. „Denn wenn es einen Idioten in einer Gruppe gibt, dann verdient diese Person, dass man sich über sie lustig macht.“ Achmed entstand nach 9/11 und der zunächst erfolglosen Suche nach Osama bin Laden. „Man kann sich nicht über den Anschlag lustig machen. Aber ich werde mich über diesen Idioten lustig machen.“ Elke Allenstein

Z

Zauber Jim Henson ist als Erfinder der Sesamstraße (Ernie und Bert) und der Muppet Show weltberühmt. Doch sein eigenwilliger Streifen Der dunkle Kristall (1982) hat nur bei eingefleischten Fans Kultstatus. Zugegeben, die von ihm und Frank Oz entworfene Fantasywelt ist reichlich skurril, doch sie gewann 2019 viele neue Fans, als Netflix die Vorgeschichte als Serie herausbrachte. In dieser fantastischen Welt versuchen die elfenartigen Gelflinge exzentrische Reptilienwesen, die Skekse, daran zu hindern, eine umweltzerstörende Diktatur zu errichten. Diese recht stereotype Story wird so sehr überstrahlt von der liebevoll gebauten Welt und ihren Puppen – analog bezaubert halt. Susann Massute

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