In westlichen Expertisen zur russischen Führung taucht häufig der ultranationalistische Politologe und Publizist Alexander Dugin (60) auf. Ist er „Putins Einflüsterer“, sogar sein „Gehirn“? Eine Art „graue Eminenz“? Fragen, die häufig zu Mutmaßungen über die ideologische Grundierung der verfolgten Politik und ihrer Absichten führen.
der Freitag: Herr Baunov, inwieweit können Ideologen wie Alexander Dugin Wladimir Putin und sein Umfeld beeinflussen?
Alexander Baunov: Ich glaube nicht, dass für den Kreml irgendeine Person eine bindende Ideologie formuliert. Das moderne Russland wurde von Präsident Putin erfunden – es ist sein Produkt. Was Alexander Dugin angeht, so war sein Einfluss bis etwa 2015 zu ver
ert. Das moderne Russland wurde von Präsident Putin erfunden – es ist sein Produkt. Was Alexander Dugin angeht, so war sein Einfluss bis etwa 2015 zu vernachlässigen. Aber in Moskau akkreditierte ausländische Journalisten mochten ihn. Er sah aus wie eine Mischung aus einem Priester, Leo Tolstoi und Alexander Solschenizyn, verfügte über gutes Englisch, und der russische Akzent fehlte nicht. Dugin hatte Ideen, die westliche Leser beeindruckten oder schockierten. In Russland begann man sich mehr für ihn zu interessieren, als Erklärungen dafür gesucht wurden, warum man nicht als Teil Europas anerkannt war. War er dadurch mehr als eine Randfigur? Es kann sein, dass Dugin zu denen gehört, die Putin gelesen hat, jedoch danach nicht Dugins Terminologie gebrauchte. Putin redet mehr wie ein Beleidigter, ein von Ungerechtigkeit Verletzter – jemand, der bereit ist, sich zu wehren. Der Schlüssel, um Putin zu verstehen, wie wir ihn heute erleben, ist sein Verhältnis zum Westen in den fast 20 Jahren als Präsident. Diese Zeit hat ihn nicht weniger geprägt als die 20 Jahre zuvor. Ich denke, seine Grunderfahrung mit dem Westen ist die, getäuscht und nicht als gleichwertig behandelt worden zu sein. Das überlagerte mehr und mehr seine Erfahrungen, die sich aus dem Zusammenbruch der UdSSR und dem daraus folgenden eigenen Statusverlust ergeben hatten. Es leistete seiner Auffassung Vorschub, dass der Westen Russland angeblich zerstören will und Russland ohne die Ukraine nur ein halbes Russland ist. Auch wenn Putins Umfeld von den westlichen Sanktionen spricht, herrscht der Glaube vor, dass Russland zerstört werden soll. Den eigentlichen Grund – die Invasion in der Ukraine – nimmt man nicht zur Kenntnis.Placeholder infobox-1Kommen wir noch einmal zurück auf Dugin. Wie würden Sie seine Grundidee beschreiben?Mit der eurasischen Theorie. Wenn der Amerikaner Samuel Huntington im Blick auf den „Kampf der Zivilisationen“ meint, mit den Russen könne man nicht zusammenarbeiten, da es mit ihnen einen zivilisatorischen Konflikt gebe, pariert Dugin mit der These: Schaut her, ich habe eine Basis formuliert, auf der wir mit den asiatischen Staaten zusammenfinden. Das machte ihn interessant. Viele Menschen gründen ihre Selbstachtung darauf, dass sie anders sind als die anderen. Sie nutzen dafür passendes Baumaterial – manche bekommen es von Alexander Dugin.Inwieweit korrespondiert das mit Putins Ideen von einer Rückkehr Russlands als starker Macht?Putin wollte Russland seit jeher stärken. Zunächst nannte er das Stabilität. Dies war der Schlüsselbegriff, inzwischen ergänzt durch den Begriff der Rückkehr. Als er Ende 1999 zum Nachfolger von Boris Jelzin wurde, versprach er, die Wirtschaft zu fördern und das Bruttoinlandsprodukt zu verdoppeln. Das verstand er unter Stärkung. Die nun propagierte Rückkehr bedeutet: Die Einnahme von Land ist kein Tabu mehr. Man agiert jetzt offener als ein klassischer Eroberer. Die Flagge wird gehisst, die Sprache geändert und der neue Kurs ohne Verklausulierung durchgesetzt.Wie wirkt das auf die urbanen und intellektuellen Russen?Da gilt es, Unterschiede zwischen den Generationen zu machen. Russen unter 30 sehen kaum noch fern. Für die TV-Einschaltquoten sorgen Menschen mittleren und höheren Alters. Und es gibt natürlich Unterschiede zwischen Groß- und Kleinstädten. Großstadtrussen haben gegenüber dem Krieg einen zynischen Pragmatismus entwickelt. Einige sind mitfühlend und sehen das Unglück, das ihr Land den Bewohnern eines anderen Landes bringt. Aber die meisten verfügen – obwohl sie in der Schule Dostojewski und Tolstoi gelesen haben – nicht über die Fähigkeit dazu. Sie denken, die mögen uns nicht und würden uns das Gleiche antun, wenn sie könnten. Andere denken sogar, der Gegner ist schwach und wird ohnehin verlieren, also lasst es uns schnell über die Bühne bringen, dann werden nicht so viele Menschen sterben. Unter denen, die weder enthusiastisch für noch aktiv gegen diesen Krieg sind, trifft man beide Einstellungen.Läuft für Russland mit diesem Krieg alles wie geplant? Putin braucht einen Sieg, den er erklären kann. Das geht nicht, wenn die russischen Streitkräfte noch immer dort stehen, wo sie 2014 aufgehört haben – auf der Krim. Es geht besser, wenn auch der Donbass beherrscht wird. Aber ich glaube, selbst das ist nicht genug. Früher galt es für russische Spitzenbeamte als unanständig, zu sagen: Russland will verlorene Gebiete zurückholen. Das ist mittlerweile komplett anders. Weder Alexander Dugin noch Ex-Präsident Dmitri Medwedew werden jetzt Zwischenergebnisse als endgültig akzeptieren. Russland wurde mobilisiert für den Rückgewinn von Gebieten, für wirtschaftliche und ideologische Autarkie.