Die Postmoderne preist den Weltbürger. Doch wie verbreitet ist er wirklich? Und denkt diese neue Idealkreatur auch tatsächlich weltmännisch? Das Denken im Kleinen ist nicht zwangsläufig an eine bestimmte Gesellschaftsform gekoppelt. Diese Erkenntnis kam schon dem ungarischen Filmtheoretiker Bela Balász, als er 1930 über die Beziehung zwischen Filmästhetik, Kleinbürger und dessen klassen- und schichtenlosen Charakter nachdachte: "Der Kleinbürger steckt in vielen Proletariern, in sehr vielen Intellektuellen und Großbürgern auch." Wer die Unverwüstlichkeit dieses geschundenen Typus erklären will, muss ihn also aus dem Korsett der Soziologie befreien und Mentalitäten untersuchen. Doch wie soll das geschehen?
Man kann sich an seine "kulturelle Praxis" halten. Das versucht Heinz Schilling, Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnographie an der Universität Frankfurt am Main, in seiner Studie Kleinbürger - Mentalität und Lebensstil. Dazu entwirft er ein Tableau, in dem er ihn räumlich, mentalitär, sozialhistorisch und ästhetisch erklärt. Für Schilling läuft das kleinbürgerliche Wesen auf das Verhältnis von Distanz und Nähe hinaus. Diese Begriffe strukturieren das Empfinden und Nachdenken des Kleinbürgers, wobei die sogenannte "Kultur der Nähe" ambivalent ist: sie wärmt, schützt, schafft Übersicht und Orientierung, bedeutet aber auch Enge, Kontrolle und Verpflichtung. Leitkategorien der kleinbürgerlichen Kultur sind Familie, lokale Orientierung und Besitz. Sie dienen nur einer Aufgabe: Sicherung des eigenen Wertesystems. Die Kleinstadt ist der Hort der Kleinbürgerlichkeit, hier ist der Raum überschaubar und die Ereignisse vorhersehbar. Weil der Kleinbürger, so Schilling, Fremdheit und Distanz nicht aushält, ist er der Widersacher der urbanen Zivilisiertheit und verantwortlich für den Tod der Idee Stadt. Die Inneneinrichtung im 40 Quadratmeter großen Wohnzimmer bei Handwerker Dierich, den Schilling als Beispiel anführt, offenbart Risikolosigkeit, Sparsamkeit, Ordnungsliebe, Aufstiegsstolz und Ausstiegsangst. Schilling leitet daraus die These von der funktionalen Ästhetik als kleinbürgerliches Kulturideal ab: Es ist schön, weil es nützt.
Vom nachbarlichen Heckenstreit im Schrebergarten über Spitzweg-Nachdrucke bis zum Wurzelsepp in der Eichenschrankwand, Schilling spart in seiner Untersuchung nicht mit praktischen Beispielen. Dabei zieht er globale Querverbindungen: Kleinbürgerlichkeit gibt es in Gelnhausen genau wie in Nanterre oder New York, wo an Ground Zero die Kitschification mit Katastrophendevotionalien voranschreitet und die steigenden Grundstücks- und Mietpreise inzwischen vielerorts die Lebensqualität von Suburbia in eine Nachtruhe ohne Störung eingekerkert haben. Den Rahmen des gewohnten Spießerbildes verlässt Schilling, wenn er sich pointiert und streitlustig Phänomenen von Kleinbürgerlichkeit unserer Zeit widmet, die zunächst weltmännisch daherkommen. So nimmt er Essays von Hans Magnus Enzensberger unter die Lupe. Der literarische Altmeister, findet er, lasse sich von einer Vielgestaltigkeit und Oberflächenexotik der Mehrheitsbevölkerung blenden. Doch die Kultur der Nähe werde durch die scheinbaren Ausbrüche aus der normativen Kleinbürgerlichkeit aber gerade nicht angetastet. Nur vom soziologischen Hochsitz des Intellektuellen, so Schilling, kann man die bundesdeutsche Mittelmäßigkeit nicht als Einheitsbrei, sondern als ein Gemeinwesen von seltener Buntscheckigkeit deuten.
Dem kann man leicht folgen. Hatte doch schon Erich Fromm erkannt, dass das kleinbürgerliche Dasein mehr denn je eine ideologische Grundstruktur unserer Gegenwart darstellt, als er in Haben oder Sein der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nachsagte, das anale Stadium nie verlassen zu haben. Besitzfanatismus, das Horten von Dingen wie Gefühlen, markiere normalerweise die Zeit vor dem Erreichen der vollständigen Reife. Eine Gesellschaft aber, die über dieses Stadium nie hinauskommt, ist krank. Es nützt also gar nichts, wenn die Polstersitzecke gegen einen Barcelona-Chair eingetauscht wird. Gewandelte Oberflächen können den Kleinbürger vielleicht auf den ersten Blick verbergen, verschwinden lassen sie ihn nicht.
Genauso spiegeln modische Etiketten wie Erlebnis- oder Informationsgesellschaft zwar neuartige Ausdrucksformen unserer Gegenwart wider, sagen dabei aber nichts über Grundstrukturen des Systems und dessen Hierarchien aus. Sie sind lediglich Beweis einer konkretistischen Oberflächenwahrnehmung. Die zum ökonomischen Überleben notwendige Partikularisierung und Spezialisierung großer Gesellschaftsbereiche und natürlich der Mediendiskurs befördern diese Wahrnehmung. Der Vordergrund erscheint dauerhaft chaotisch und immer wieder einzigartig neu. Das dafür benötigte flexible Denken und Handeln reduziert sich im Kern auf physische Mobilität im Dienste des Status quo - eine scheinbar freiwillige Anpassungsfähigkeit, die jedoch vom System aufgezwungen wird.
Für manch einen ist diese Fähigkeit eine respektable Leistung! Zum Beispiel für den Münsteraner Philologen Thomas Althaus. In seinem Aufsatzband Kleinbürger - Zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewußtseins unternehmen 14 Autoren den Versuch, aus literaturwissenschaftlicher, philosophischer und historischer Sicht Kleinbürger und Kleinbürgerlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert zu bestimmen. Im Unterschied zu Schilling allerdings will dieses Buch laut Klappentext Verständnis und Nachsicht für das Kleinbürgerliche erwecken, denn der Blick auf das Nahe, das Private und Konkrete sei eine nachvollziehbare Schutzreaktion angesichts des unaufhaltsamen Zerfalls von Orientierungssystemen im Prozess der Moderne. Dem Kleinbürgerlichen wird, so wörtlich, die Würde eines "reflektierten Weltverhaltens" zugebilligt. Dieser apologetische Ansatz gelingt dort am besten, wo der Kleinbürger lediglich über soziale Kriterien als "historisches Produkt" einer bestimmten Zeit definiert wird. So zum Beispiel für das lange 19. Jahrhundert, wo gesellschaftlich sanktionierte Begrenzungen und ihre Folgen noch deutlich nachweisbar sind. Instabile Gewerbebedingungen zwangen hier den Kleinbürger ständig in einen lokalen Horizont und zur geschäftstüchtigen Lösung von "Sachfragen", wie der Historiker Heinz-Gerhardt Haupt ausführt. Da blieb für höhere oder gar utopische Interessen keine Zeit. Aber schon in der Weimarer Republik sind Mittelstand und Kleinbürgertum erheblich schwieriger auseinander zu halten. Dass Wissenschaft auch als schadenfrohe Kleinkrämer-Sophistik daherkommen kann, zeigen Beiträge wie der von Olaf Briese. Haust der Kleinbürger am Ende nicht überall?, fragt der Autor listig in seinem Versuch, Arthur Schopenhauer eine biedermeierliche Existenz nachzuweisen. Der Philosoph sei zwar ein Rebell der Worte gewesen, doch als im September 1848 vor seiner Studierstube die Revolution ausbrach, habe er sich mit einem Opernglas am Fenster angeekelt vom Chaos abgewandt! Kleinbürgerruhe hätte über Philosophierevolte gesiegt, so wie der späte Erfolg den spröden Außenseiter weich und versöhnlich gemacht habe. Solch modische Entlarverei, getarnt als antiautoritäre Demokratieverpflichtung, macht es sich leicht.
Dass in jedem Menschen kleinbürgerliche Anlagen stecken bedeutet nicht, dass alle Menschen auch kleinbürgerlich sind oder es bleiben. Genau so wenig ist ein bestimmtes Maß an Ordnungs- und Sicherheitsstreben kleinbürgerlich. Entscheidend ist der Grad der Selbstreflexivität. Darin liegt auch die Crux von Thomas Althaus´ origineller, aber nicht schlüssiger Kleinbürgerverteidigung, mit der er die "Chancen der Begrenztheit" herausarbeiten will. Sicherlich können Barrieren und Tabus in einer entgrenzten konsum- und hedonismusdominierten Gesellschaft ihre Reize entwickeln. Aber in Verbindung mit Kleinbürgerlichkeit bleibt die entscheidende Frage, ob die Begrenztheit ein bewusster oder unbewusster Akt ist. Das "Vollglück der Beschränkung" ist die Dumpfheit, mit der dieses Glück empfunden wird im Unterschied zum gewollten Verzicht.
Es ist kein Zufall, dass gegenüber den Detailstudien aus Literatur (Kleinbürgerlichkeit bei den Figuren Jean Pauls und Wilhelm Buschs, bei Auguste Comte) und Musik (Opernlibretti bei Verdi und Offenbach) der Zeitraum nach 1949 vergleichsweise kurz abgehandelt wird. Der Forscher verlässt hier die übersichtliche und ungefährliche Materialsphäre. Jede Aussage wird ein Denk-Wagnis. Während Stefan Wolle in polemischer Manier das sozialistische Biedermeier als Lebensform für den gesamten Zeitraum der DDR beschreibt, enden die Analysen für die bundesdeutsche Vergangenheit mit der Adenauerzeit, als bestätige sich damit die These von der vermeintlichen Überwindung der Kleinbürgerlichkeit im Westen. Während Thomas Götz glaubt, die kleinbürgerliche Weltauffassung sei inzwischen zu einem "randständigen Harmoniemilieu" in der Erlebnisgesellschaft herabgesunken, spitzt Althaus immerhin rückblickend den deutsch-deutschen Konflikt als Wettkampf um die komfortablere Kleinbürgerlichkeit zu. Kleinbürgerlichkeit bleibt ein Kontinuum, findet auch Heinz Schilling, trotz oder eben gerade wegen der neuen Kommunikationsfülle. Die neue Supermacht der Medien gehe nicht erst seit heute mit dem Kleinbürger als Quotenlieferant eine Symbiose ein. Als kongenialer Ausdruck einer kleinbürgerlichen Mentalität und passend zu deren Lebensstil sichern die Medien auch die Zukunft des Kleinbürgerlichen. Weltbürger, ade!
Heinz Schilling: Kleinbürger. Mentalität und Lebensstil. Campus, Frankfurt am Main 2003, 252 S., 24,90 EUR
Althaus, Thomas (Hrsg.): Kleinbürger - Zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewusstseins. Attempto, Tübingen 2001, 335 S., 34 EUR
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