Positiv denken

TIPP Bei F.s drittem Termin zur Behandlung einer Angststörung sagte ihr Arzt: »Jammern Sie soviel Sie können.« ...

Bei F.s drittem Termin zur Behandlung einer Angststörung sagte ihr Arzt: »Jammern Sie soviel Sie können.«

Nach seiner Ansicht jammerte F. nämlich viel zu wenig. Und gerade das war die Ursache ihres Problems. Ihre unzufriedenen Gefühle, die sie nie aus ihrem Mund gespuckt hatte, hatten in ihr über die Jahre einen Klumpen geformt, der ihre Nerven immer wieder in Spannung versetzt und sie mit der Angst bedroht hatte, dass sie zusammenbrechen würde.

»Versuchen Sie nicht, sich zu täuschen. Nehmen Sie einfach wahr, dass Sie mit einigen Dingen nicht zufrieden sind«, sagte ihr der Arzt.

»Auch wenn es um eine Kleinigkeit geht?« blickte F. ihrem Arzt vorsichtig in die Augen.

»Natürlich. Sie können über alles jammern!«

»Dann ... kann ich ... kann ich auch über das We ... Wetter jammern?« F. stotterte leicht. »Der graue Himmel gibt mir nicht gerade ... nicht gerade ein allzu heiteres Gefühl ... Ich fühle mich, als ob ... als ob mein Kopf von den Wolken ganz hartnäckig bedrückt würde, als ob mein Hals von der kalten Luft gewürgt würde, als ob die ganze Welt mich fertig zu machen versuchte ... Aber es ist doch lächerlich, sich wegen so etwas zu beklagen ...«

»Aber Sie fühlen sich schlecht, das ist einfach wahr.«

»Aber gegen das Wetter kann niemand etwas machen. Auch wenn ich jammere, wird der Himmel davon nicht blau ...«

»Gerade in solch einem Fall, wenn an der Lage nichts zu ändern ist, soll man so viel jammern, wie man will.«

»Aber ... man sagt normalerweise, dass man nicht jammern soll, da alles von der eigenen Einstellung abhängig ist ...« - F.s Stimme schwankte. »Ich habe immer versucht, positiv zu denken. Wenn es wolkig war, sagte ich zu mir selbst: Oh, wenn die Sonne so wenig scheint, bekomme ich keine Sommersprossen. Wenn es regnete, kaufte ich mir einen schönen Regenschirm und freute mich darüber, dass ich den Regenschirm benutzen konnte ... Waren solche Versuche etwa nicht richtig?«

»In Ihrem Fall jedenfalls nicht. Sie unterdrücken zwangsweise Ihre wahren Gefühle. Und das macht Ihnen Stress.«

»Das heißt ... ich muss nicht positiv denken?«

»Nein.« sagte der Arzt entschlossen. »Seien Sie ruhig unzufrieden, trübselig, düster, melancholisch, traurig. Weinen Sie, jammern Sie ruhig laut.«

»Das heißt ... ich darf über das Wetter jammern?«

»Na-tür-lichdürfen Sie jammern! Schreien Sie ruhig ›Scheiße‹ in den Himmel! Das schadet niemandem!«

»Niemandem?«

»Fällt Ihnen etwa jemand ein?«

»Nein.«

So begann F. mit dem Jammern. Vom Wetter bis zur Zahnpasta ihres Mannes, die er trotz des eigenartigen Geruchs unbedingt weiter benutzen wollte, jammerte sie vor allen möglichen Leuten in ihrer Umgebung. Und dabei fühlte sie sich immer leichter, als ob jede Unzufriedenheit ein Gewicht gehabt hätte. Ihre Schränke im Flur wurden ebenfalls leichter und freier, da sie daraus nach und nach ihre neunundsechzig Regenschirme nahm und verschenkte.

Es war kurz nachdem sie den fünfzigsten Regenschirm verschenkt hatte. An ihrem Geburtstag bekam sie von ihrer Schwiegermutter ein Buch. Es kam genau an diesem Tag per Post an.

»Liebe F.«, schrieb sie ihrer Schwiegertochter in schöner Schrift, »ich weiß, dass du dich neulich nicht sehr wohl fühltest. Ich hoffe, dass dieses Buch dir etwas hilft.« Der Titel des Buches lautete: Positiv denken - und Sie werden glücklich!

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