Als Horst Seehofer im April 2019 plötzlich einfiel, dass 2020 das 30. Jubiläum der Wiedervereinigung anstand, setzte er rasch die Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit" ein. Wenig später nahm sie ihre Arbeit auf – und schloss sie Anfang Dezember 2020 ab. Viel Aufmerksamkeit bekam sie nicht. Corona erlaubte keine Feierlichkeiten. Dafür gab es ein Thesenpapier, das sich als ein Bericht zum Stand der Einheit und als Handlungsempfehlung versteht.
Es möge ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ entstehen, so die Expertinnen: möglichst in einem zukunftsweisenden Gebäude, möglichst in der ostdeutschen Provinz. So ein Zentrum solle die Lebensleistung und Umbruchserfahrung der Ostdeutschen würdigen und nutzbar machen für kommende Transformationsprozesse. Das wäre sicher ein Schritt nach vorn.
Die Lebensläufe der Ostdeutschen galten im vereinigten Deutschland bislang vor allem als defizitär. Lebensleistung im Osten vor 1989 galt als verdächtig, nach 1990 bestand sie vor allem in einer möglichst reibungslosen Anpassung an das neue System. Ein Perspektivwechsel wäre hier überfällig. Möglich, dass so ein Zentrum ihn leisten will. Doch wie könnte er aussehen?
Es war einmal ein Raum der Möglichkeiten
Die Blickrichtung wechseln hieße, die Erfahrungen des Lebens in der DDR und in der Revolutions- und Transformationszeit nicht nur als Objekt der Beforschung, sondern als Ausgangspunkt einer Befragung des Westens und des neoliberalen Heute zu nehmen – auf seine Widersprüche, sein permanentes soziales, demokratisches, ökologisches Scheitern hin. Es hieße auch, sich dem zuzuwenden, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Das ist an erster Stelle die radikale demokratische Selbstermächtigung der ostdeutschen Revolutionärinnen – weit über westliche repräsentative Formen der Demokratie hinaus. Das sind auch die Vorschläge der Runden Tische für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung, für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit. All dies waren Transformationsvorschläge, die auf dem dann vornehmlich von westdeutschen konservativen und neoliberalen Akteurinnen gestalteten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben sind. Viele von ihnen erscheinen 30 Jahre später so hellsichtig wie aktuell.
Die Transformationsleistung der post-DDR-Bürgerinnen fand ab 1990 also unter dem Vorzeichen nicht nur des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens statt, sondern auch jenes Möglichkeitsraums, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten. Stattdessen wurde der Osten mittels der Treuhandanstalt zu einem Labor der anderen Art: einer in Geschwindigkeit und Umfang in Europa einzigartigen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft. Die ostdeutsche Transformationsgeschichte ist deshalb auch eine des Protests. Die Treuhand-Doku „Rohwedder“ rief die mit diesen vergessenen Kämpfen verbundene westdeutsche Angst vor einer „zweiten Revolution“ im Osten vor kurzem eindrucksvoll in Erinnerung. Die Revolution von 1989/90 endete also – nicht immer friedlich – in der als alternativlos kommunizierten Verheerung tausender Arbeitsbiographien und der Niederschlagung jedes Dissens’.
Für eine Aufarbeitung in dem geplanten Zentrum wirft all dies Fragen an das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie auf, auf die das Bild des vermeintlich so demokratieunfähigen Ossis nicht nur die falsche, sondern überhaupt keine Antwort ist. Die Fragen anders zu stellen, wäre der Punkt. Transformationsgeschichte, wie im Titel des geplanten Zentrums angedeutet, (ost)europäisch zu denken, wäre sicher ein Beitrag hierzu. Die post-sozialistische Transformation lässt sich innerhalb einer transnationalen osteuropäischen Geschichte, in der sich durchaus erfolgreichere Alternativen zur deutschen Treuhandpolitik finden lassen, besser verstehen.
Auch für Ostdeutsche aus Vietnam endete die DDR
Auch die deutsche Transformationsgeschichte ist weder rein ost- noch rein biodeutsch. Eine vergleichbare Neuorganisation ihrer durch Deindustrialisierung, Liberalisierung und Sozialrückbau zunehmend präkarisierten Leben wurde wenig später auch Bergarbeitern und Stahlwerkerinnen im Ruhrpott und anderswo im Westen Deutschlands und Europas abverlangt. Und auch Migrantinnen und nicht-Biodeutsche, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, bauten sich neue Leben auf. Nur taten sie dies noch dazu unter den gewaltvollen Bedingungen eines grassierenden Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen ermöglicht und befördert worden war. Das fällt einer ausschließlich aus weißen, nicht-migrantischen Persoenen zusammengesetzten Kommission wohl nicht als erstes auf.
Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem zu feiern noch überdeutlich anzumerken ist. Einige Vorschläge – Freifahrtscheine für Menschen in Nationalfarben am 3. Oktober, Deutschlandfähnchen für Oberschülerinnen – klingen in Zeiten von Pegida gruselig und, für diejenigen, die sich noch an die DDR erinnern, auf groteske Weise vertraut.
All das wirft im Bezug auf das vorgeschlagene Zentrum eine weitere, über das inhaltliche hinausgehende, Frage auf: Was hieße es, wenn eine staatlicherseits in größerem Umfang bereitgestellte Förderung von Forschung und Austausch an die im Bericht skizzierte zentrale Institution und deren vorgegebenen Auftrag gebunden würde? Ein solches an eine staatlich vorgegebene Setzung geknüpftes Erinnerungsprojekt gibt es im Bezug auf die DDR-Geschichte bereits. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter Enquete-Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist.
Der Historiker Thomas Klein hat kürzlich in der ostdeutschen Zeitschrift telegraph beschrieben, wie kleinere, nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollen, sich in entweder in Antizipiation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ beugten – oder den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers. Was in diesem Rahmen nicht erzählt werden konnte, fiel in den letzten drei Jahrzehnten folglich der ostalgischen Schattenerzählung eines „Es war doch nicht alles schlecht“ anheim.
Wenn der Staat nun also für eine Aufarbeitung der Transformationsgeschichte/n Geld in die Hand zu nehmen bereit ist – was er dringend sollte –, wäre es wichtig, dass er die Vergabe desselben nicht erneut über politische und begriffliche Vorgaben in bestimmte Richtungen zwängt und andere verschließt. Die Bewertung der deutschen Einheit und Transformation sollte hier nicht bereits, auf die im Bericht anklingende positive Weise Ausgangspunkt, sondern eher Inhalt und Ziel einer zu fördernden offenen und kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein. Um das zu erreichen und die Ausrichtung der geplanten Einrichtung zu öffnen, täte eine breite Debatte not. Der im Bericht formulierte Vorschlag, die Bundesregierung solle zur Ausgestaltung eines detaillierten Konzeptes, der Aufgaben und Ausrichtung des Zukunftszentrum aus der Kommission heraus eine Arbeitsgruppe berufen, klingt leider erst mal nicht danach. Wer das Geld verwaltet, setzt den Diskurs.
Kommentare 7
Sehr wichtige und richtige Erkenntnisse. Ein solches Zentrum wäre wünschenswert, mir fehlt allerdings der Glaube daran, das das Ziel und der Inhalt sich an den historischen Realitäten orientiert. Wer in Potsdam die pandemiebedingte "Feier" mit einem Propagandarummel erlebte, der mit pausenloser Hightec-Berieselung der Bürger und dem Hurrapatriotismus des Inhaltes kommuniziert wurde, fühlte sich an längst überwundene Zeiten erinnert.
die kritische bewältigung von geschehenem/erlittenen geht meist
unspektakulär vor, tiefer als eine häutung, als eine bewußt-werdung.
jenseits von wurst-grill und freibier,
die das gefühl der befreiung kultisch re-animieren wollen.
Es ist wie immer. Schöne, schöne Träume. Dieser Staat hat in den nunmehr 30 Jahren deutlich mitgeteilt, wohin die Geschichts"aufarbeitung" zu gehen hat. Siegerjustiz, Siegergeschichtsschreibung usw. Und entsprechend das Geld dafür verteilt.
Das absolut lächerliche Potsdamer Herz so wie dann demnächst die noch lächerlichere Bananenschaukel vor dem Hohenzollernschloss, die einem als Denkmal für eine nicht vorhandene deutsche Einheit verkauft wird, sind doch sehr "schöne" Zeichen dafür. Nach 30 Jahren zweiter deutscher Teilung (nach Adenauers erster) beschenkt uns Wolfgang Schäuble mit einem hingenuschelten "Wahrscheinlich sind da auch Fehler gemacht worden.". Der Mann müsste ins Kreuzverhör. Und noch so einige andere ebenfalls. Das wird niemals geschehen.
Aber es gibt wie immer eben auch Hoffnung. Jetzt, nach lediglich 80 Jahren werden die letzten noch greifbaren 100jährigen Nazimitläufer kurz vor ihrem Tod in streng rechtsstaatlicher juristischer Aufarbeitung für ihre Kollaboration bestraft. Die Richter des Volksgerichtshofes mit ihren 5500 Todesurteilen und viele, viele andere exponierte Nazis haben in Westdeutschland wohl versorgt und von der Justiz völlig unbelästigt beeindruckende Nachkriegskarrieren machen können.
Und von diesem Staat erwarten Sie nun immer noch ernsthaft (sehr viel) Geld für ein zensur- und manipulationsfreies großes geselllschaftliches Gespräch im Ton und im Sinn der 89er DDR-Ereignisse?
Sie können jetzt sofort einen Versuch starten:Halle/Saale, Marktplatz vor dem Stadthaus, "10.Mai 1991, - 30.Jahrestag "Eierwurf zu Halle". Beantragen Sie mal Geld für eine Würdigung dieses beinah schon letzten jugendlichen Widerstandes. Am besten bei der Stiftung zur Aufarbeitung des SED-Unrechtes. Damals ein irres Bild größtmöglich polarer Willenskonzentration. "Das" Volk, von Helmut Kohl die große Erlösung und Händeschüttelei erwartend, während über deren Köpfe die Eier auf Kohl flogen. Eine Filmszene. Unüberbietbar auch deren "Aufarbeitung". Als Täter (einer von mehreren) wurde ein Juso(!) gefasst. Die anderen entkamen alle. Da versucht endlich mal ein SPDler, die Arbeiter, wenn auch mit etwas fragwürdigen Mitteln, nicht zu verraten, und dann wird er ausgeliefert. Und entschuldigt sich.
Und für eine angemessene Darstellung dieser Ereignisse wollen Sie also Geld von diesem Staat? Oder etwa für eine Untersuchung und Würdigung des Verrats an den Bischofferoder Kalikumpels mit ihrem Hungerstreik aus Anlass des Diebstahles ihres Betriebes? Oder eine kritische Darstellung für die sofort nach dem Mauerfall komplett in westdeutsche Hände gelangten Bezirkszeitungen der SED? Oder wie wäre es mal mit einer großen GRUNDBUCHRECHERCHE für die Wendezeit? Oderoderoder.
Sowohl die Stiftung SED-Aufarbeitung als auch diese Stasibehörde haben eindeutige Vorgaben bekommen. Die wurden erfüllt. Wie denn nicht. Das sind von Anfang an zuallererst Herrschaftinstrumente gewesen. Weiter nichts.
Mit Volker Braun könnte man beginnen:
Da bin ich noch: Mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben, wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text, Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle: Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Aber das Wir von damals ist weg, so es ein solches denn jemals überhaupt gegeben haben sollte. Es ist komplett aufgebraucht. Es ist zu einem, unvermeidlich immer auch nebligem Traum geronnen. Es brauchte also ein neues WIR.
Ein Mäzen mit 100 besser 300 Millionen, der eine FREI forschende, denkende, sprechende, agierende Veranstaltung, finanzieren könnte, ist nicht in Sicht. Der bundesdeutsche Staat wird das nicht sein. Selbst, wenn er eine Ahnung entwickeln könnte und wollte. Aber der hat jetzt 30 Jahre lang bewiesen, dass er weder will noch kann. Und die biologische "Lösung" rückt auch hier immer näher. Das große Vergessen und Verklären ist unvermeidlich im Gange. Gibt ja auch noch ein paar andere aktuelle Probleme.
Sehr schön geschrieben, dass nur ein gelernter Ossi leisten kann. Meine volle Zustimmung. Man hat die sogenannte Einheit geredet, aber nicht gelebt und man wird mehr als 30 Jahre brauchen, um z.B. eine Rentengerechtigkeit herzustellen. Viele, die sie von Anfang an, ob ihrer Lebensleistung, verdient hätten, erleben sie nicht mehr. Ausgesessen von einem neoliberalen Staat, der mithilfe der "Arbeitnehmerpartei" SPD und einem gewissen "Genossen" Schröder den Kahlschlag des Sozialstaates betrieben und viele Ostdeutsche in die Harz4-Armut getrieben hat. Und heute? Die PdL, die sich als Interessenvertreter der Ostdeutschen einer großen Beliebtheit erfreute, hat den Platz, dominiert von der West-"Linke" geräumt. In das Vakuum stießen die braunen Ableger der CDU-Extremisten. Wahrlich, eine tolle Entwicklung.
Die Überschrift ,, Es war einmal ein Raum der Möglichkeiten'' trifft es- das Thema.Möglichkeiten müssen nicht zwangsweise sehr groß sein aber wenigstens eine stabile praktische Tatsache erschaffen, die sich länger hält als einen Sommer.
Eliten wollen Teilungszementierungs-Verantwortung zudecken
Jahrzehntelang gab es eine innerdeutsche enge ökonomische Zusammenarbeit bei Handel und der Produktion. Holger Bahl hat seine tätigkeit als westdeutscher banker in der schweiz bei der Finanzierung dieser geschäfte in „Als Banker zwischen Ost und West“ seit Ende der 60er beschrieben. Ferdinand Kroh hat in „Wendemanöver“ die Gewinnerseilschaften des Ost/Westhandels dargestellt. Die DDR war ein Billiglohnland vor der Haustür. Die Mrd-Kredite sollten das weiter über 1990 absichern. Daraus wurde nichts.
Nach der SPD, Grüne, war auch die CDU im Frühjahr 89 quasi fast bereit die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Man hatte sich auch pol. eingerichtet. Das man die DDR quasi stützte will man hörte nicht mehr hören.
So, so: "All dies waren Transformationsvorschläge, die auf dem dann vornehmlich von westdeutschen konservativen und neoliberalen Akteurinnen gestalteten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben sind. Viele von ihnen erscheinen 30 Jahre später so hellsichtig wie aktuell."
Ja, na und? Nach 30 jahren - und der faktischen unmöglichkeit einer realisierung - kann eine aktualität gedrost behauptet werden, ohne gefahr. Als Mao Tse Dong keine gefahr mehr für die neu-kapitalistische orientierung Chinas war, erschien sein gesicht auf allen chinesischen geldscheinen...
Diese "zukunftszentrum" ist schlicht rausgeschmissenes geld. Insofern passt es in die ost-deutsche provinz, wo demnächst ohnehin milliarden für den post-braunkohle-strukturwandel versenkt werden - beginnend mit der abwaschung der aussenhaut des Naumburger Doms und dem weiteren ausbau von radwegen sowie der errichtung von zusätzlichen verkehrsampeln...