Postkarten

Bildersturm Der Freitag hat sechs "Superdemokraticos"-Autoren gebeten, über das Selbstbewusstsein der Lateinamerikaner zu schreiben. Die Antwort eines Mexikaners in vier Botschaften

Erste Postkarte

Darüber zu schreiben, wie ich mich als Lateinamerikaner fühle, ist mir unangenehm. Weil dieses vage Gefühl irgendwie falsch ist, als wäre es vorgetäuscht. Das ist es: Ich posiere hier für ein Touri-Foto. Ich übe den passenden Gesichtsausdruck des edlen Wilden. Mein folkloristischstes Lächeln. Ich trällere „El condor pasa“ oder „Canción mixteca“. Ich gebe auf.

Zweite Postkarte

Ich mag Postkarten. Auf der einen Seite ein Bild und auf der anderen eine leere Seite für einen kurzen Text. Gewöhnlich steht da: „Liebe Grüße“ oder „Küsse“. Auf dem Bild bin ich in meiner Rolle als junger lateinamerikanischer Schriftsteller zu sehen: verärgert – wie die lateinamerikanischen Schriftsteller der 1960er, 1980er und 1990er Jahre – über die „US-Yankee-Tyrannei“. Auf der anderen Seite der Postkarte folgender Text: „Neulich las ich einen ziemlich langweiligen Artikel, in dem ich über den Begriff „Subamerikaner“ stolperte. Erst war ich gelangweilt, dann verblüfft, schließlich empört-belustigt. Ich brauchte eine Weile, bis mir klar wurde, dass es sich dabei um einen Druckfehler handelte: „Subamerikaner“ sollte eigentlich „Südamerikaner“ heißen, ein „d“ für ein „b“, ein Fall von Legasthenie. Oder besser gesagt ein Druckfehler, ein Lapsus, mit ein bisschen Wahrheit. Denn Südamerika liegt nicht nur auf der Karte unterhalb den USA. Obwohl die geographische Wahrheit ist, dass Mexiko noch zu Nordamerika zählt, bleibt es in der Praxis so: Unter den USA sind wir alle tatsächlich „Subamerikaner“.

Dritte Postkarte

Das Bild: ich in meinem natürlichen Lebensraum. Der Text: Wenn ich in meinem alltäglichen Milieu bin, erlebe ich mich selbst nicht als Lateinamerikaner. Möglicherweise fehlt mir politisches Bewusstsein. Oder vielleicht ist es Gewohnheitssache. Die Wahrheit ist, dass ich mich normalerweise nicht als Lateinamerikaner fühle, außer in diesen zwei Situationen:

1. Wenn meine Gedichte in eine Anthologie lateinamerikanischer Gedichte aufgenommen werden. Und mehr noch, wenn sie nicht aufgenommen werden.

2. Wenn ich ohne Erfolg versuche mit meinem DVD Player DVDs abzuspielen, die nicht den Regionalcode 4 haben.

Vierte Postkarte

Bild: Der Eiffelturm. Text: Wie entkommt man dem Klischee, ein Lateinamerikaner in Paris zu sein? Nur wenn ich auf Reisen bin, außerhalb Lateinamerikas, nehme ich mich als Lateinamerikaner war. Besonders auf dem Flughafen. Vor allem, wenn ich dem Beamten der Einreisebehörde meinen Ausweis vorlege. Verdächtiger Lateinamerikaner. Der Beamte sieht mich an, als wolle er darin bestätigt werden, dass ich in seinem Land illegal arbeiten möchte. Dass das nicht so ist, ist egal. Für einen Moment fühle ich mich miserabel: wie ein geeigneter Kandidat, der vom guten Willen irgendwelcher NGOs profitieren will. Der Beamte gibt mir meine Papiere zurück – und ich werde wieder einfach ich selbst. Ich lehne die imaginäre Hilfe ab: „Nein, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, aber ich möchte kein politisches Asyl beantragen.“ Ich möchte nur meine Kreditkarten überziehen, ein paar Museen besuchen, in ein bis drei bedeutenden Restaurants essen, ein Foto von mir unter dem Eiffelturm machen und einige Souvenirs und Postkarten kaufen, auf deren Rückseiten ich meinen Freunden schreibe: „Viele Grüße und Küsse“.

Luis Felipe Fabre, geboren 1974 in Mexiko-Stadt. Er veröffentlicht Essays über die Schrift und die Anti-Schrift (2005) und Cabaret Provenza (2007). Außerdem ist er der Herausgeber der Anthologie Divino Tesoro. Muestra de nueva poesía mexicana. 2008 veröffentlichte er The moon ain't nothing but a broken dish, eine Auswahl seiner Gedichte auf Englisch.


Auf schreiben 20 lateinamerikanische und deutsche Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren von Juni bis Oktober 2010 über ihren Alltag. Sie erzählen in Blog-Einträgen von persönlichen Erfahrungen und Realitäten, darüber wie sie in ihren Ländern Geschichte, Sexualität, politische Teilhabe und Globalisierung wahrnehmen. Alle Texte werden ins Deutsche übersetzt. Eine Auswahl finden Sie auf freitag.de/superdemokraticos ebenso wie alle Blogs aus der Freitag-Community zum Thema Lateinamerika. Wer selbst dort erscheinen will, versieht seinen Blogeintrag auf freitag.de mit dem Tag superdemokraticos.

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Übersetzung: Barbara Buxbaum

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