Praktizierte Osterweiterung

Sportplatz In Chemnitz fanden gerade die Europa-Wochen statt, und passend dazu machte die traditionell über Tschechien, Polen und (Ost-) Deutschland führende ...

In Chemnitz fanden gerade die Europa-Wochen statt, und passend dazu machte die traditionell über Tschechien, Polen und (Ost-) Deutschland führende Friedensfahrt in der Stadt mit dem Marx-Schädel Station. Diese bekannte Rad-Etappenfahrt war vor 1989 hochoffiziell - und irgendwie auch praktisch - der Völkerfreundschaft gewidmet. Zwar äußerte sich diese Freundschaft ausgerechnet über Konkurrenz, etwa in der zwischen Respekt und Wut oszillierenden Gefühlslage der DDR-Radsportanhänger gegenüber Aavo Pikkuus oder Dshamolidin Abdushaparow, den großen sowjetischen Gegenspielern der eigenen Idole Hans-Joachim Hartnick und Olaf Ludwig. Aber Distanz, kritische Distanz zumal, fördert eben auch Verständnis. Objekte grenzüberschreitender Verehrung waren die polnischen Asse Ryszard Szurkowski und Stanislaw Szozda, denen manch Schrein in Aue, Ludwigsfelde oder Parchim errichtet wurde.
Später, in den frühen neunziger Jahren, bewies das Radrennen, welche Potenziale in der Osterweiterung Europas liegen könnten. Es waren vor allem die Tschechen, mobilisiert von der einstigen Friedensfahrtlegende Pavel Dolezel, die die von Deutschen und Polen im Stich gelassene Tour retteten. 1993 und 94 zirkulierte die Rundfahrt nur auf tschechischem Boden. Seit 1995 sind die Deutschen wieder dabei. 1996 stiegen auch die Polen als Ausrichter wieder ein. Noch immer halten die Tschechen die Fäden der Organisation in ihren Händen.
International aufgeteilt sind die übrigen Tätigkeitsfelder bei der Tournee. Die Deutschen, als die Partner mit dem potentiell meisten Geld, haben das Marketing übernommen. Neben dem Fahrzeugsponsor aus Niedersachsen engagieren sich vor allem ostdeutsche Betriebe. Der Werbetross, der sich vor der Fahrerkolonne über den Asphalt wälzt, umfasst mittlerweile über 30 Fahrzeuge und kann bis zu zwei Kilometer lang werden.
Die Polen wiederum sind offenbar für das Fahren zuständig. Die diesjährige Friedensfahrt haben sie jedenfalls dominiert. Zwar waren sie mit offiziell schlechter eingestuften Teams am Start - zwei GS II und drei GS III-Mannschaften, während auf deutscher Seite jeweils drei GS I- und GS II-Abordnungen gemeldet waren - aber die entscheidenden Etappen gewannen Angestellte polnischer Profi-Rennställe. Erst überzeugten auf der sogenannten Königsetappe von Mlada Boleslaw nach Chemnitz über 231 Kilometer der für CCC Polsat startende Piotr Przydzial (Polen) und sein tschechischer Mannschaftskollege Ondrej Sosenka mit einer atemberaubenden Fahrt vor dem Feld. Drei Minuten hatten sie am Ende Vorsprung. Und beim Mannschaftszeitfahren sicherten sich die Kollegen von Mroz den Tageserfolg. Mroz hat die Osterweiterung auf eigene Art verstanden. Das nominell polnische Team beschäftigt zwei Polen, zwei Litauer, einen Ukrainer und einen Kirgisen. Die multinationale Truppe lag recht deutlich vor dem deutsch-spanisch-dänischen Team Coast. Telekom landete - geschwächt durch zwei Ausfälle in den Tagen davor - noch hinter weiteren Polen, Deutschen, Dänen und Holländern abgeschlagen auf Rang acht.
Der überraschende Ausgang liegt - neben der aktuellen Tagesform - vor allem an der unterschiedlichen Herangehensweise der Rennställe. Für die polnischen Teams ist die Friedensfahrt - neben Weltmeisterschaften - der jährliche Höhepunkt. Die Trainingspläne sind auf die zehn Tage im Mai abgestimmt, die Motivation ist hoch. Für Telekom, Coast oder Nürnberger ist die Friedensfahrt hingegen nur Durchfahrstation. Einzig dem Team des sächsischen Hühnerzüchters Wiesenhof kann man überdurchschnittliches Engagement an der Rundfahrt unterstellen.
Ausgerechnet Wiesenhof hatte auf dieser Tour aber damit zu kämpfen, dass die Stasi-Mitarbeit ihres sportlichen Leiters Michael Schiffner (ehemals auch DDR-Friedensfahrt-Kapitän) und des Marketing-Chefs von Tour und Rennstall, Jörg Sprenger, auch außerhalb der Radsportszene bekannt wurde. Zwar setzte umgehend ein großer Beschwichtigungsreigen ein, aber wie schon weiland Lothar de Maizière wusste, ist das Kapital ein scheues Reh; erst recht das gerade noch sponsorwillige. Die Verunsicherung über die Zukunft des Rennstalls dürfte sich durchaus auf die Leistung niedergeschlagen haben. Aber wie hieß es im Fahrerlager angesichts der Bedrohung der Fahrt durch die Stasi-Vorwürfe? "Es kümmert sich auch keiner darum, bei welchen Rennen in Italien die Mafia mit drinsteckt." Wovor mancher sich im Hinblick auf den Osten fürchtet, sitzt westlicherseits bereits am Tisch.

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