Der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel hat ganz recht: Einwanderung und Asyl sind zu wichtig für die Betroffenen, als dass man sie so würdelos behandelt sehen möchte, wie es vorige Woche im Bundesrat geschah. Von Würde zu sprechen, wäre schon vorher ein Witz gewesen. Um die Sache ging es nur ganz am Anfang der Debatte, als der Kanzler das Verlangen der Industrie nach "Greencards" aufnahm und die Union nicht mehr bestritt, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei oder wenigstens ein "Zuwanderungs"-Problem habe. Inzwischen sind beide Seite einig: Es geht vor allem darum, mehr "Zuwanderung" zu verhindern. Die Union will aber der SPD die Meinungsführerschaft nicht gönnen. Deshalb wohnen wir einem Machtpoker bei. Von solchen "Problemen" möchte man sich abw
abwenden. Aber der Verfahrensstreit im Bundesrat wirft ein Licht auf die Mängel des deutschen Föderalismus. Als was sich der Föderalismus entpuppt, verdient höchste Aufmerksamkeit - besonders in den Anfängen einer "Berliner Republik" und zur Zeit der absurden Debatte, ob nicht das Land Brandenburg in "Preußen" umbenannt werden sollte. Woher rührt die Unklarheit des Grundgesetzes in der Frage, wie im Bundesrat mit gespaltenen Stimmen eines Landes umzugehen sei? Was lernen wir aus dem Umgang des Bundesratspräsidenten Wowereit mit dieser Unklarheit? Und wie kommt es, dass die SPD sich, wenn es um den Bundesrat geht, um keinen Koalitionsvertrag schert? Schon die Grünen und die PDS mussten ja denselben Vertragsbruch hinnehmen, über den sich jetzt die CDU empört: Bei Uneinigkeit der Koalitionspartner ist Stimmenthaltung vereinbart, der sozialdemokratische Landesvater jedoch setzt sich darüber hinweg. Wowereit traf keine selbstverständliche Entscheidung, als er das Einzelvotum des Ministerpräsidenten Stolpe als Abgabe aller vier Stimmen des Landes Brandenburg wertete. Denn warum schreibt Artikel 51 des Grundgesetzes vor, die einheitliche Stimmenabgabe müsse "durch anwesende Mitglieder" der Landesregierung "oder deren Vertreter" erfolgen - wenn nicht deshalb, weil auch eine uneinheitliche Stimmabgabe für möglich gehalten wird? Das heißt doch, solche Uneinheitlichkeit hat einen Platz im Verfahren. Der Bundesratspräsident muss sie gegebenenfalls konstatieren und alle Stimmen des Landes für ungültig erklären. Das ist aber nur die eine Seite. Man kann doch auch nicht bestreiten, dass Landesverfassungen existieren und ebenfalls Rechtswirkung entfalten. Der brandenburgischen Verfassung zufolge vertritt Ministerpräsident Stolpe und nicht Innenminister Schönbohm das Land "nach außen", also etwa im Bundesrat. Bundesrecht bricht zwar Landesrecht. Aber eine Zurückweisung der brandenburgischen Vertretungsregel ist aus Artikel 51 nun auch nicht herauszulesen. Konsequenz: Das Grundgesetz ist hier wirklich unklar. Es forderte vom Bundesratspräsidenten eine Entscheidung. Klaus Wowereit hat die Entscheidung, die er fand, vielleicht gern gefunden, aber entscheiden musste er jedenfalls. Ihm "Verfassungsbruch" vorzuwerfen, ist lächerlich. Führende Unionspolitiker räumten schon am Sonntag abend ein, dass der "Eklat" im Bundesrat keine Folge spontaner Empörung war. Er war inszeniert. Die Unions-Ministerpräsidenten wussten genau, wie Stolpe, Schönbohm und Wowereit sich verhalten würden. Sie hatten sich darauf eingestellt. Sie wussten, Stolpe würde seinen Minister Schönbohm entlassen, falls der auf seinem Nein zum Einwanderungsgesetz beharren würde. In der FAZ konnte man lesen, Schönbohm habe von Edmund Stoiber während der Bundesratssitzung den Rat erhalten, er solle sich "aus Respekt vor dem brandenburgischen Ministerpräsidenten" der Stimme enthalten und dies offen bekennen. Tatsächlich wich er aus, als Wowereit nachfragte. "Sie kennen meine Auffassung": Schönbohm weiß natürlich genau, keine Meinung, sondern ein performatives Wort war gefragt. Darunter versteht man ein Wort, das gleichzeitig eine verbindliche Tat ist - ein Rechtsakt. Den hat er unterlassen, um in Brandenburg die Koalition zu retten. Hinterher wollte er sich herausreden: Er habe ja schon in der Debatte Nein gesagt! So habe sich die Teilnahme am Rechtsakt erübrigt! Das ist Wahlkampfgetöse - die Konsequenz wäre, dass man auch im Standesamt das Ja- oder Nein-Wort der Brautleute abschafft und durch ein Geplauder über "Auffassungen" ersetzt. Deshalb zurück zur Unklarheit des Artikels 51. Sie rührt daher, dass der Artikel eine Bestimmung der Bismarckschen Reichsverfassung fortschreibt. "Jedes Mitglied des Bundes", lesen wir dort, "kann so viel Bevollmächtigte zum Bundesrat ernennen, wie es Stimmen hat, doch kann die Gesamtheit der zuständigen Stimmen nur einheitlich abgegeben werden." Mitglieder des Reichsbundes waren nicht Minister und Ministerpräsidenten, sondern landesherrliche Fürsten. Nun wird man nicht annehmen, die Bismarcksche Regelung habe den Gesandten der Fürsten ein Stimmensplitting über deren Köpfe hinweg erlauben wollen. Die Regel wurde vielmehr allein den Fürsten auferlegt. Sie betraf vor allem den König von Preußen. Der "musste" seine brandenburgischen, rheinländischen und ostpreußischen Stimmen stets einheitlich abgeben. Will sagen, er durfte mit seinem Stimmenblock die anderen Länder erdrücken. Mit der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik hat das rein gar nichts zu tun. Aber das Grundgesetz übernahm die Formulierung. Aus der Interferenz von Wirklichkeit und Formulierung entsteht nun ein eigener Sinneffekt. Man sagt sich nämlich, dass es mit rechten Dingen zuginge, wenn in einem demokratischen Gemeinwesen die Vertreter eines Bundeslandes unterschiedlich abstimmen dürften. Denn auch die entsendende Bevölkerung teilt sich in Parteien und Strömungen. Aber das ist es eben: Die Landesvertreter im Bundesrat sind nicht von der Bevölkerung entsandt. Der deutsche Bundesrat verkörpert einen Föderalismus bloß der Regierungen, nicht der Wähler. Er ist nicht besonders demokratisch. Auf dieser preußischen Rückständigkeit kocht die SPD ihr Süppchen. Nicht ungern ließ Klaus Wowereit einen Ministerpräsidenten zu Wort kommen, dessen Vertretungsgewalt den Regalien eines Landesfürsten ähnelt. Und wenn es Koalitionsverträge gibt? Versuche, die "Fürsten" zur wenigstens konstitutionellen Monarchie zu drängen? Dann werden diese Verträge eben gebrochen. Die SPD ist Deutschlands älteste Partei; sie versteckt sich noch unter Preußens Schatten.