Problemradler

A–Z Vor 200 Jahren wurde die Draisine erfunden. Fluch oder Segen? Unser Lexikon übers Radfahren, seine vielen Freuden und Risiken
Ausgabe 19/2017
Problemradler

Foto: Harry Engels/Getty Images

A

Achim Wenige Tage vor Mauerbau schickt Uwe Johnson seinen Reporter Karsch über die deutsch-deutsche Grenze. Eigentlich besucht er dort in einer nicht genauer bezeichneten Stadt (vielleicht Leipzig) seine Ex, die mittlerweile eine berühmte Theaterschauspielerin ist. Sie ist liiert mit dem Radrennfahrer Achim (vielleicht die Radfahrerlegende der DDR, Gustav-Adolf, genannt „Täve“, Schur), der mit seinen 30 Jahren bereits ein Superstar im Land des real existierenden Sozialismus ist (Täve Schur, heute 86, gilt als größtes Sportidol der DDR). „Das dritte Buch über Achim“ – zwei weitere Bücher „von“ ihm, wie er fälschlich im Roman sagt, gibt es schon – will aber nicht gelingen. Die eigene Fantasie, das, was Achim erzählt, und das, was die Mächtigen im Arbeiter- und Bauernstaat über ihn lesen wollen: Ein „drittes Buch“ wird daraus nicht.Wie das kommt, ist ein großer Roman. Mladen Gladić

B

Bierbike Als Kolumbus 1492 Amerika entdeckte, brachte er den Ureinwohnern Messingglöckchen und bunte Mützen. Wenn heute eine westdeutsche Reisegruppe Berlin entdeckt, fährt sie mit dem Bierbike das Reichstagsufer entlang, ruft „Ker watt schön“ und nötigt den Fahrer, „mal was von Olaf Henning“ zu spielen. Bierbikes sind fahrbare Mobiltresen, eine verkümmerte Kreuzung aus Hawaiibar und Dorfkneipe. Sie verstoßen vielleicht nicht gegen die StVo, dafür aber gegen sämtliche Regeln des Anstands. Wem das egal ist, dem bietet das Bierbike viele Vorteile: Mit zwei Promille spart man sich die leidigen Gespräche mit Touristenführern, Einheimischen oder Polizisten, kann vom Sitz aus in die Spree pinkeln und kommt in den Genuss von (mindestens) zwei Fernsehtürmen. Tipp an die Veranstalter: Wenn so viel getrunken wird, dass sich am nächsten Tag niemand mehr an die Tour erinnern kann, ist die Chance groß, dass abends wieder dieselbe Gruppe auf dem Rad sitzt. Kundenbindung und so. Simon Schaffhöfer

F

Freiheit Freiheit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit – das bedeutet für viele hierzulande Autofahren (➝ Renitenz). Aber Radeln? In einer Reihe islamisch geprägter Länder steht das Velofahren für Mädchen und Frauen für ebendas. Entweder ist dort das Radeln für sie gesetzlich verboten oder wird, weil „unsittlich“, nicht gern gesehen . Sittsamkeit geht für einige Herren der Schöpfung anscheinend mit der Kontrollierbarkeit des anderen Geschlechts einher. Ein positives Gegenbeispiel bietet der 2012 erschienene preisgekrönte Film „Das Mädchen Wadjda“.

Die gleichnamige Protagonistin ist elf, selbst- und modebewusst. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie im saudi-arabischen Riad. Sie wünscht sich nichts so sehr wie das grüne Fahrrad, das sie täglich auf dem Weg zur Schule in einem Laden sieht. Damit möchte sie gegen den Nachbarsjungen Abdallah antreten. Wadjda verdient Geld, das sie für das Rad spart, mit Mixtapes. In der Schule nimmt sie an einem Koran-Rezitationswettbewerb teil, um an das Preisgeld zu kommen. Mit ihrer unkonventionellen Art eckt sie bei vielen an. Aber am Ende sehen wir sie auf dem grünen Velo gegen Abdallah antreten. Sie schafft es – und gewinnt die Freiheit. Behrang Samsami

H

Hund Während manche Fahrradfahrer ihre Waden vor spielwütigen Kläffern in Sicherheit bringen müssen, steigt der trendige Hundebesitzer selbst auf den Sattel. Das Wettrennen ist hier freundschaftlich (➝ Zusammen fahren). Mittelgroße Vierbeiner erreichen 30 bis 40 km/h. Dem Hund im Spurt zu entkommen ist damit nahezu aussichtslos und für einen verfolgten Radfahrer nicht der geeignete Lösungsansatz. Als fliehender Mensch provoziert er eher den Spieltrieb des Hundes. Klüger ist es, ruhig weiterzufahren, gar abzusteigen. Für das radfahrende Herr- oder Frauchen empfiehlt der deutsche Radlerclub, die Leine in der Hand zu halten, um einen Sturz zu vermeiden. Kleine und alte Hunde sollen per Anhänger oder dekorativem Lenkerkorb chauffiert werden. Das Mitführen von Pferden, Kühen und Katzen ist laut §28 der StVO indes verboten. Nina Rathke

K

Kampfzone Ich bin begeisterter Autofahrer: Mein Autoplatz, mein Kampfplatz, denke ich, beschwingt durch die Stadt düsend. Und wenn ich mich als Taxi Driver fühle, dann muss ich die Parole ernst nehmen – alter Cineast, der ich bin. Immer wenn ich an einer Ampel rechts abbiege, diese für Fußgänger auf Rot springt und da ein Fahrradweg ist, halte ich exakt davor und mache ausgedehnt den Schulterblick. Der Radler, der bei Rot noch rüber will und nicht kann, muss anhalten (➝ Renitenz). Böse blickt er ins Auto. Ich aber lächle. Lars Hartmann

L

Leichen Es gibt drei Arten von Leichen: die sorgsam gepflegten (auf Friedhöfen), die gefledderten (in der Anatomie und auf OP-Tischen) und die vergessenen (die keiner mehr findet). Mit Fahrradleichen ist es ähnlich. Die sorgsam gepflegten werden noch instand gesetzt, wenn sie scheinbar schon das letzte Lüftchen von sich gegeben haben (ein solches, von einem lieben ehemaligen Kollegen ererbtes tätschle ich, bis ich mit ihm zusammenbreche). Dann gibt es die gefledderten am Bundesplatz und anderswo, die um Rad und anderes beraubt ihr karges Gerippe spreizen. Die vielen vergessenen aber stehen in unserem Fahrradkeller: unnütze Hinterlassenschaften von Alt- und Neubewohnern und Ärgernis für alle, die jeden Tag aufs Ross steigen. Ulrike Baureithel

P

Postfossiles Zweirad 1817 erfand Freiherr von Drais die einspurige Laufmaschine, aus der in den 1880er Jahren das uns vertraute Fahrrad hervorging. Wie seine zündende Idee für das von menschlicher Muskelkraft angetriebene Gefährt zustande kam, ist nicht überliefert. Wer glauben möchte, damalige Klimakapriolen seien der Auslöser gewesen, sollte bedenken, dass es dafür keine stichhaltigen Belege gibt. Vor allem ist die Drais’sche zweirädrige Basisinnovation gewiss nicht der vielbeschworene „Vater“ oder technik- und kulturgeschichtliche Wegbereiter des Automobils. Sie ist vielmehr die Mutter einzigartig postfossiler Fortbewegungsmittel, deren jüngstes Kind das beste heute gebaute Fahrradmodell ist. Während das Kraftfahrzeug brachial Raum und Leben fordert und das Klima schädigt, ermöglicht das Fahrrad neben dem Zufußgehen die natürlichste und raumschonendste Art, vom Fleck zu kommen. Besser noch, wir Pedalisten verbrennen dabei ausschließlich das körpereigene Fett. Johann-Günther König

Q

Queen Wie ließe sich die Liebe zum Rad besser ausdrücken als mit einem Lied? Das dachte sich wohl auch Freddy Mercury, als er 1978 den Pulk der Tour de France an seinem Hotel vorbeirauschen sah und sich davon zum Hit Bicycle Race inspirieren ließ. Der ultimative Ohrwurm transportiert neben der geradezu naiv kindlichen Freude am Radeln noch etliche Popmotive: Religion, Drogen, „Star Wars“, Frankenstein, der „Weiße Hai“ und Watergate. Man sagt, dass Bicycle Race damals zu einem völligen Ausverkauf von Fahrradklingeln in der Nähe aller Konzerthallen führte. Während des Songs ließen die Fans sie schrillen. Die Reihe der Radliebe-Vertoner lässt sich ergänzen. Von Kraftwerk (Tour de France) über die Prinzen (Mein Fahrrad) bis Katie Melua (Nine Million Bicycles). Auf Spotify gibt es eine eigene Playlist zum Thema. Laut Gesetz sind Kopfhörer beim Radfahren übrigens erlaubt. Einer fehlt in der Playlist allerdings noch, der große Rolf Zuckowski. Ich sing nur: „Wenn ich mich auf meinen Sattel schwing, ist so ein Fahrrad ein starkes Ding.“ Madeleine Richter

R

Renitenz Dass wirklich alles im Leben eine Frage der Perspektive ist, lernen wir im Straßenverkehr. Es ist, wenn man so will, die vielleicht wichtigste Lektion überhaupt, denn – einmal gelernt – lässt sie einen die Perspektive des anderen einnehmen und verstehen. Das freilich ohne daraus praktisches Handeln zu ermöglichen. Die vermeintliche Renitenz des Radfahrers soll an dieser Stelle als persönliches Beispiel dienen: Mein Leben lang war ich den Fahrradfahrern gegenüber wohlmeinend indifferent gesinnt, das Schimpfen über sie empfand ich als kleingeistiges Gezeter. Dies aber änderte sich schlagartig, als ich binnen kurzer Zeit und unverdientermaßen zu Wohlstand kam und mich fortan – entgegen jeder modernen Weisung – nur noch mit dem eigenen Auto durch die Großstadt bewegte.

Plötzlich drängten sich die Radfahrer mit einer solchen Arroganz in die eigene, bislang von ihnen unberührte Lebenswelt, drängelten an jeder Ecke und verursachten doch wieder nur Zeitverlust, schnitten rücksichtslos wie selbstgewiss am eigenen Kfz vorbei, schrien, brüllten und beleidigten mich, den vermeintlichen Klassenfeind, wo sie nur konnten (➝ Kampfzone). Heute ist – dank dieses Perspektivwechsels – mein Hass auf die Renitenz der Radfahrer so groß, dass ich an ihr nicht mehr den allergeringsten Zweifel mehr habe. Timon Karl Kaleyta

S

Schnecke Hui! Seit dem Siegeszug der Pedelecs wird vor Zweirad-Senioren gewarnt. Unsicherheit würden betagte E-Bike-Lenker auf die Straßen bringen, heißt es, wenn die motorisch Überforderten motorisiert durch die Gegend eiern. Immerhin fallen sie nicht beim Versuch des Radfahrens um, wie viele andere Rentner-(Fast)-Radler.

Rüpelraser können ein Problem sein, doch das sind Einzelfälle, verglichen mit der Horde der schleichenden Schnecken und lahmen Pedalenten, die sich mit Kettenantrieb über die Straßen schieben. Im Zeitlupentempo setzen sich da Langsamradler an der roten Ampel vor einen und kommen bei Grün dann nicht aus dem Knick. Das ist nicht die einzige Situation, in welcher der Radverkehr zum Malefiz-Spiel wird. Bei fünf Stundenkilometern nebeneinander auf dem Radweg zu fahren und miteinander zu quatschen ist keine gute Idee. Auch Kurznachrichten während der Fahrt zu schreiben stört den Fluss auf der Radspur. Dabei gibt es einfache Abhilfe, wie man langsam und trotzdem sicher und nicht als Hemmschuh unterwegs sein kann: öffentliche Verkehrsmittel. Tobias Prüwer

Z

Zusammen fahren Man kommt in einer Beziehung dahin, dass man in die Hobbys des anderen eingeweiht wird. Ich also sollte nun im Urlaub das Rennradfahren lernen. Die Stimmung war gut, als beim Radverleiher die Schrittlänge ausgemessen und das passende Rad ausgesucht wurde. Doch dann die erste große Tour: orkanartiger Gegenwind, die Gischt des Mittelmeeres, Radler, Jogger und Reisebusse, der Gatte in 100 Metern Entfernung. Mehr Stress und Angst kann man auf einem Rad nicht haben. Zur nackten Angst gesellte sich die Wut. Hilferufe blieben lange unerhört. So gab ich auf und schob. Irgendwann fiel das auf. Zurück ging es in gesundem Abstand. Ich voraus – beide schiebend. Isabell Schröder

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