Zynismus ist meine Sache sonst nicht, aber die Frundsberg-Parole, unter der seine Waffen-SS-Einheit antrat: "Viel Feind, viel Ehr" bestätigt sich jetzt auf eine geradezu groteske Weise am 78jährigen Günter Grass - und das zum Teil auf der denkbar untersten Ebene von Ehrverletzung. Neidzerfressen stürzen sich die einen auf ihn: Endlich ist der Angreifer angreifbar, endlich ist der klar Redende ins Zwielicht geraten, endlich der Aufarbeiter ein Verschweiger. Andere gießen Häme-Kübel auf ihn: "Selbstzufrieden rauscht die Altersbinse" und "die fleischgewordene Moralanstalt" biete wieder nur "ein paar abgedroschene literarische Kniffe". Die Dritten sind enttäuscht und verwirrt, die vierten stehen verständnisbereit zu ihm. Alle scheinen gezwungen, sich erneut zu Grass zu verhalten.
Herab vom Sockel, auf den er sich angeblich gestellt habe, heruntergeblasen von alten Feinden, kleinlichen Neidern und von einer Generation, die ihn sowieso zur Mumie erklärt und politisches Engagement für obsolet hält. Danach mag mancher nicht mehr jenes im doppelten Sinne "ergreifende" Selbstzeugnis eines Zwiebelhäuters im Ganzen lesen.
Ein ruhiges Gespräch mit Ulrich Wickert wird zur Schlaftablette erklärt. Dabei steht weithin außer Acht, dass Günter Grass sich immer zu seiner Verstrickung und seiner Mitschuld bekannt hat. Er hat daran lebenslang herumgewürgt und hat alles in literarische Figuren einfließen lassen.
In Rowohlts Monografien hat er 1986 Heinrich Vormweg zu Protokoll gegeben: "Ich gehe davon aus, dass ein Schriftsteller von Buch zu Buch die Summe seiner Figuren ist, inklusive die SS-Männer, die darin vorkommen; und er muss diese Figuren, ob er will oder nicht, auf literarische, kühle, distanzierte Art lieben können, er muss in sie hinein können; er kann sich nicht von ihnen distanzieren und sie einfach angewidert die anderen nennen."
Günter Grass hat sich zeitlebens nicht nur mit seiner frühen und tiefen Verblendung politisch, moralisch, psychologisch auseinandergesetzt: Er hat auch versucht, zu jeder Zeit die richtigen, wichtigen Fragen zu stellen, hat das getan, was viele heute als "abgegriffen" abtun: Er hat Flagge gezeigt, Position bezogen, sprachmächtig, mutig, auch unerbittlich.
Der Dichter, ein Staatsbürger, ein Zeitzeuge, ein Einmischer, bisweilen mit dem Gestus eines Unheilspropheten, bisweilen eines Mutmachers für realisierbare Utopien. Die Dritte Welt und ihr Schicksal ließ er ebenso nahe an sich herankommen wie den drohenden ökologischen Kollaps. Der Umgang mit Fremden unter uns blieb ihm ebenso wichtig, wie er sich für die schwierige Aussöhnung mit dem Osten eingesetzt hatte.
Ich jedenfalls will mir das demokratische Nachkriegsdeutschland ohne die kräftig einredende Stimme des Günter Grass, auch wenn ich jenseits der Mauer lebte, nicht vorstellen. Nie hat er seine Verstrickungen verschwiegen; jetzt scheint sich alles auf ein Detail, in der Tat ein schwieriges, mit jenem stechenden scharfen Doppel-SS zu fixieren. Wie viel Schweigen über das, was zugleich im Libanon geschieht ...
Lieber Günter Grass, ein wenig weniger Unerbittlichkeit täte bisweilen gut, wenn es gilt, nicht nur eine Tat, sondern auch Täter aufs Korn zu nehmen. Wer Sie vom Sockel reißen will, muss Sie vorher darauf gehievt haben. Nicht nur Ihr Werk, sondern auch der homo politicus Grass hat bestanden und wird Bestand haben.
P.S. 1961 hat mir in strengsten Zensurzeiten ein Freund aus Hamburg in einem Brief das Gedicht Kinderlied abgeschrieben. Die zweite Strophe heißt:
Wer spricht hier, spricht und schweigt? Wer schweigt, wird angezeigt. Wer hier spricht, hat verschwiegen, wo seine Gründe liegen. Die Hintergründigkeit dieser Zeilen ist mit unserem heutigen Wissen kaum zu überbieten.
Friedrich Schorlemmer, geboren 1944, lebt als Schriftsteller und Theologe in Wittenberg. Zuletzt erschien von ihm das Buch Gibt es eine Wahrheit im Plural? (2004).
Manfred Flügge
Umerzogen
Dass eine uneingestandene Schuld der Antrieb zu bedeutenden künstlerischen Werken war, hat es immer wieder gegeben, von Dostojewski bis Thomas Mann. Der so "linke" Heinrich Mann hat in seiner Jugend zwei Jahre lang ein völkisch-antisemitisches Blatt redigiert und entsprechende Beiträge geliefert. Die Bedeutung des Werkes oder der gesellschaftlichen Rolle wird durch solche "Schandflecken" nicht gemindert, aber auf den Zusammenhang zu verweisen ist die legitime Aufgabe von Kritik und Biographie. Angesichts der Rolle, die Grass gespielt hat, geht es aber um mehr. Das Selbstverständnis, ja die moralischen Grundlagen unserer politischen Kultur sind berührt, daher die große Erschütterung. Damit es mehr wird, als ein Begleitkonzert zur Marktkarriere eines Buches, muss man den Fall zum Anlass für eine weiter gespannte Debatte nehmen. Was bedeutet es für die Kultur der alten Bundesrepublik, dass sie von "Umerzogenen" geprägt wurde? Woher der Radikalpazifismus und der Antiamerikanismus? Woher die Unfähigkeit, im Wandeljahr 1989 Deutschland zu denken?
Denn das ist das eigentliche Problem: das wiedervereinigte Deutschland hat keine kulturelle Basis, kein Projekt, kein Selbstverständnis, keine Stimme. Auch vom Osten her ist kein neues Licht gekommen. Die Umerzogenen und ihre Lobby haben in ihrem unerschütterlichen Selbstbewusstsein die Debatten und den Markt beherrscht, und sie tun es ja noch. Und wo wir schon dabei sind: es gehört alles auf den Tisch, auch die Einwirkungen des DDR-Apparates auf die Kultur der alten Bundesrepublik. Ja, die moralisch-kulturelle Nachkriegsgeschichte muss neu, muss überhaupt erst einmal geschrieben werden, einschließlich ihrer unausgeleuchteten Bereiche.
Manfred Flügge, geboren 1946, lebt als Schriftsteller in Berlin und Paris. Zuletzt erschien:von ihm 2006 der Band Heinrich Mann. Eine Biographie.
Annett Gröschner
Rituale
Vor einem Jahr hatte Günter Grass im Wahlkampf noch alle die seiner Kollegen als Feiglinge beschimpft, die sich nicht deutlich und öffentlich für Rot-Grün positionierten. Es ging dabei um nicht mehr und nicht weniger als um den Untergang, von was auch immer. "Wer Angst vor dem Feuilleton hat, hat als Schriftsteller seinen Beruf verfehlt", donnerte er damals und die Zuhörer um mich herum, zum Großteil langgediente SPD-Wähler, stöhnten: "Was für eine Nervensäge, aber so ist er eben unser Günter, das Gewissen der Nation." Wie er da auf der Bühne stand und wetterte, war er für mich ein Mensch aus einer anderen Epoche. Ich habe Respekt vor seinem Werk, lebe aber unter anderen, nicht von klaren Dichotomien geprägten Umständen.
Nun kann man Grass nicht den Vorwurf machen, dass er Angst vor dem Feuilleton habe. Die Empörung und Enttäuschung, die auf sein Geständnis, er sei als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen, folgten, hat etwas Ritualhaftes. Andererseits hört sich die Empörung von Seiten des Angegriffenen über die Empörung an, als sei eine Absprache nicht eingehalten worden. Wieso fühlt man sich eigentlich bei diesen Feuilletondebatten immer so schrecklich manipuliert?
Die Frage ist, was hat Günther Grass erwartet? Die Kritik war doch recht gesittet, wenn man sich erinnert, wie seinerzeit zu Beginn der Stasi-Debatten im Feuilleton mit Christa Wolf und Heiner Müller umgegangen wurde. Es ist eben nicht unerheblich, zu welchem Zeitpunkt eine Verfehlung publik wird. Sicher ist wohl, dass Günter Grass bei einem früheren Bekanntwerden den Nobelpreis nicht bekommen hätte, Schuld hin oder her, der Name SS ist international zu recht geächtet.
Wie immer unangenehm sind die enttäuschten Moralisten. Die meisten hatten (bisher) das historische Glück, ihre Standhaftigkeit nicht beweisen zu müssen. Sie bekamen einfach kein entsprechendes Angebot.
Aber wie oft ist der Dichter klüger als der Mensch. In der Blechtrommel bekommt Oskar Matzerath bekanntlich bei Kriegsende einen Stein an den Kopf. - Danach beginnt er zu wachsen, allerdings krumm und schief. Den Stein warf sein Halbbruder beziehungsweise Sohn, der zu jung war für den Nationalsozialismus.
Annett Gröschner, geboren 1964 lebt als Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt erschien 2004 der Geschichtenband Ein Koffer aus Eselshaut.
Roger Willemsen
Groteske
Der "Fall" Grass: Was für eine gute Gelegenheit, das Gegenteil von Moral zu zeigen - nämlich politische Korrektheit und sich selbst wichtig zu machen, als ginge es um das Arretieren eines Mörders. Der Kritiker soll auf das Niveau des Kritisierten gezogen werden, und dazu ist keine Petitesse zu klein. Und wunderbar: der Spiegel hat bis heute nicht die Wahrheit zur Fortbeschäftigung hochrangiger Nazis im eigenen Blatt eingestanden, die FAZ hat sich bis heute nicht im vollen Umfang der eigenen Vergangenheit gestellt, aber am 17jährigen Grass arbeiten sich die Fundamentalisten ab. Was für eine historische Groteske, dass diese Debatte um Kritik und Moral zu einer Zeit geführt wird, da das Agieren der Israelis im Libanon fast unkritisiert bleibt.
Roger Willemsen, 1955 geboren lebt als Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt erschien von ihm 2006 der Band Afghanische Reise.
Ingo Schulze
Zufall
Vier Gründe, warum ich mich nicht zu Günter Grass äußern will:
1. Gegen alle Wahrscheinlichkeit ließ der Zufall G. G. die Zeit, bis er selbst bereit war zu reden. Der Ernstfall ist also nicht eingetreten.
2. Wie man es aushält, unter diesem Damoklesschwert zu leben, ist mir unbegreiflich.
3. Bei der unsäglichen Freude seiner Feinde wird mir gelinde gesagt übel.
4. Statt sich die Zeit mit dieser Debatte zu vertreiben, könnte man ja auch lesen. Ich empfehle Vor Feuerschlünden von Franz Fühmann.
Ingo Schulze, geboren 1962, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien 2005 der Roman Neue Leben.
Leander Scholz
Filmriss
Das Traurige ist nicht das Geständnis selbst, im Gegenteil, auch nicht, dass es viel zu spät kam. Das Traurige ist der Filmriss, mit dem das Geständnis abbricht. "Ab dann reißt der Film", heißt es in den Erinnerungen von Günter Grass. Und weiter: "So oft ich ihn flicke und wieder anlaufen lasse, bietet er Bildsalat." Von diesem Bildsalat hätte ich gerne etwas mehr erfahren. Ungeordnet vielleicht und bloß assoziativ, fragmentiert und möglicher Weise auch nicht der Wahrheit entsprechend, aber in jedem Fall ungeschützt und vor allem ehrlicher. Denn vielleicht kommt das Geständnis der Wahrheit nur einer Erinnerung zuvor, die nicht aufhört zu rumoren. Man muss sich die großen politischen Szenen vor Augen führen, in denen die Rede vom Filmriss ihre falschen Triumphe feiert.
Leander Scholz, geboren 1968, lebt als Schriftsteller und Medienwissenschaftler in Köln. Zuletzt erschien von ihm 2004 der Roman Fünfzehn falsche Sekunden.
Christoph D. Brumme
Pauken
Das einzig Überraschende an Günter Grass´ spätem öffentlichen Geständnis scheint mir, dass er selbst den jugendlichen Irrtum/Fehler als Schuld empfand. Doch dem Moralisten genügt ein dicht über dem Boden gespanntes Seil zum Stolpern, während Hyperboreer bei solchen Gelegenheiten die Füße heben. Nun verwundert es allerdings nicht mehr, dass in Grass-Romanen so häufig Pauken und Posaunen ertönen, wo Geige oder Triangel die angemessenen Instrumente wären.
Christoph D. Brumme, geboren 1962, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien der Roman Süchtig nach Lügen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.