Brücken werden nicht mehr gesprengt auf dem Balkan. Die neuesten Kriegsbilder kommen inzwischen aus dem Nahen Osten, aus Kaschmir und Afghanistan. Doch die Wunden auf dem Balkan vernarben schlecht. Kalter Frieden herrscht: der neu entstandene Staatenteppich ist noch nicht sinnvoll verknüpft. Angst vor der Zukunft treibt immer noch Tausende aus der verwüsteten Heimat. Vieles bleibt ungelöst: wirtschaftlich, politisch, kulturell. Und eine Vielzahl von Reportagen, Erzählungen, Essays und Filmen offenbart letztlich unsere politischen, ökonomischen und intellektuellen Schwächen. Illusionsloser Globetrotter Peter Scholl-Latour (Jahrgang 1924) erweist sich erneut als erfahrener, nicht ermüdeter Kenner. Historisch kundig, strategisch denkend, beobachtet er a
obachtet er auch in Der Fluch des neuen Jahrtausends die Krisenherde von Russland bis Afrika, vom Nahen Osten bis China, von Afghanistan bis hin zum Balkan. Die ehemals kriegführenden Parteien sieht er "ermattet, ausgelaugt, ja resigniert", allein: "die Abgründe sind nicht überbrückt." Deshalb warnt er vor dem tragischen Irrtum der "überstürzten Eingliederung dieser lebensunfähigen Zwergstaaten Südosteuropas in die ohnehin kränkelnde Europäische Union". Überzeugt, dass Kriege zur Tragik der "conditio humana" gehören, plädiert er für einen illusionslosen Blick, für Europa als selbstständigen Akteur auf der Weltbühne - für konservative Erneuerung, was für den Autor auch Wiederbelebung "soldatischer Tugenden" bedeutet. Die Balkankriege und die daraus entstandenen Staaten - Bosnien-Herzogewina bezeichnet er als "Protektorat Absurdistan" - sind für ihn Menetekel, die - verstärkt durch andere Krisen weltweit - die Gefahr anzeigen, dass "die Globalisierung jenes abgrundtiefen Horrors, den Joseph Conrad in seiner Novelle Das Herz der Finsternis so eindringlich beschreibt, keineswegs auszuschließen ist. Jedenfalls ist es an der Zeit, ihr mit militanter Abwehrbereitschaft entgegenzutreten". Globales Dorf der Emigranten Miljenko Jergovic´ (Jahrgang 1966) ist der erfolgreichste bosnische Erzähler der vergangenen Jahrzehnts. Er lebt wie viele seiner Künstlergeneration in der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Kundige Beobachter wie Paolo Rumiz und Claudio Magris wollen in ihm einen neuen Ivo Andric´ sehen, der als bislang einziger südslawischer Autor 1961 den Nobelpreis erhielt und mit Die Brücke über die Drina ein vielgelesenes Meisterwerk schrieb. Allerdings: Jergovic´ ´ epischer Atem ist kürzer, schnell verdichtet er eine Situation, mehr als zehn Seiten ist keiner seiner Texte. Oftmals berichten sie, wie Gestalten mit gemeinsamer Geschichte verstreut werden - manchmal über den Planeten ("Alle, die an diesem letzten Vorkriegssonntag bei Neso Fischpaprika gegessen hatten, waren noch am Leben, nur dass sie früher in einem Umkreis gelebt hatten, den eine Stadtbahn in 45 Minuten durchfahren konnte, und nun hätte sie nicht einmal das schnellste Überschallflugzeug in dieser Zeit zusammenbringen können.") Während Peter Scholl-Latour mit großer Geste eine Bilanz für den Beginn des neuen Jahrtausends geben will und dabei auch auf den Balkan schaut, verfolgt Miljenko Jergovic´, wie seine Gestalten vom Balkan in die ganze Welt getrieben werden. Dabei wird aus dem literarischen Chronisten des Bosnien-Krieges allmählich ein wichtiger Chronist des globalen Dorfes der Emigranten, der Vertriebenen, der Entwurzelten. Tatsächlich lebt immer noch mehr als eine halbe Million Bosnier im Ausland, eine weitere gute halbe Million wurde durch neue Gebietsaufteilungen zu Flüchtlingen im eigenen Land - insgesamt sind also immer noch ein Viertel der Gesamtbevölkerung direkt durch die Vertreibungen des Krieges betroffen. Gleichzeitig verlassen weiterhin Tausende junger Leute ihr zerschossenes Land. Mit Miljenko Jergovic´ fand eine entwurzelte Generation ihren bislang sprachmächtigsten Chronisten. Im Essay beschreibt er seine politische Ängste: "Es entsteht eine Region, in der ein Terror von schwacher Intensität herrscht, die gesamte Wirtschaft gerät in die Hände der Mafia, und ein aussichtsloses System der Unfreiheit bemächtigt sich des Lebens des Einzelnen, so dass die letzten Spuren demokratischer und bürgerlicher Initiative abgewürgt werden." Während Scholl-Latour davon ausgeht, dass eine Erneuerung Südosteuropas für ein Erstarken Europas unverzichtbar ist, sieht Jergovic in dem Patchwork des Elends kein bedrängendes Problem für Westeuropa: Der Flüchtlingsdruck hat sich soweit verringert, wie es für die traditionellen Einwanderungsländer wünschenswert ist. Westliche Armeen könnten stationiert bleiben, humanitäre Organisationen hätten langfristig Sinn. Kurzum: "Kleine Mafiokratien und nationalistische Diktatürchen ... wären kein politisches Problem für die freie Welt." Nicht einmal ein ökologisches, fügt er sarkastisch hinzu, denn "die Körper der Getöteten verrotten ungleich schneller und ordentlicher als Coca-Cola-Plastikflaschen". Unter Kuratel Matthias Rüb, Südosteuropakorrespondent der FAZ, steuert mit Flucht in die Zukunft - Bosnien nach dem Krieg den optimistischsten Text bei, auch wenn er ihn aus dem Schrecken hervorgehen lässt. Drastisch benennt er das Ausmaß der Massaker, der Vertreibung, der Flucht: "Hätte es im wiedervereinigten Deutschland zwischen 1992 und 1995 einen Krieg gegeben wie jenen in Bosnien, wären knapp 40 Millionen Menschen zu Flüchtlingen geworden." Knapp, kenntnisreich und analytisch beschreibt er Heraufkommen und Verlauf des Krieges. Statistische Details untermauern seine Anschauungen: Immer noch sterben monatlich zehn bis zwölf Menschen bei Minenunfällen, oft sind Kinder betroffen, weil sie Absperrungen missachteten. Wenn man aber das Ausmaß der Katastrophe betrachte, dann sei schon viel erreicht worden bei der Osterweiterung des Westens. Immer wieder findet er die Millionen der Staatengemeinschaft sinnvoll eingesetzt; etwa beim neuen Telefonnetz. Der Westen, dessen Interessen nicht analysiert werden, spielt die Rolle des alleinigen Retters: Allerdings - so Rüb - hätte er schon den ersten Opfern zu Hilfe eilen sollen und zögerte zu lange, ehe er das Land unter die "wohltuende Zwangsverwaltung der Staatengemeinschaft" stellte. Ein Paar aus Bosnien Die amerikanische Jüdin Susan Schwartz Senstad lebt mit ihrem norwegischen Ehemann in Oslo, arbeitete jahrelang als Familienpsychologin und schrieb mit Nullkind einen Roman, wie er ankommt: spannend, temporeich, psychologisch. Zum Plot: Ein Paar aus Bosnien, Mesud und Zheljika, flieht nach Norwegen zu einer Gastfamilie, dem Ehepaar Mette und Hans Olav. Mette, Tochter ungarischer Juden, ist kinderlos; und dabei hatte sie ihrem Vater, der den Genozid an den europäischen Juden knapp überlebte, mindestens drei Enkel versprochen. Zheljika hat einen Sohn, ein Vergewaltigungskind, das sie verleugnet. Der wirkungsvolle Konflikt vom Kampf um ein Kind ist psychologisch eindringlich gestaltet, politisch jedoch zuweilen klischeehaft (Die Serben - die Nachbarn, und die Nachbarn vergewaltigen). Da der Roman den Bosnienkrieg mit dem Mord an den europäischen Juden in einer Zeit verbindet, in der die letzten Zeitzeugen von Auschwitz allmählich aussterben, kann man fragen, wird Bosnien ein neuer Ort, der zivilisatorische Ansprüche auf die Probe stellt?Peter Scholl-Latour, Der Fluch des neuen Jahrtausends. Eine Bilanz, C. Bertelsmann.Die Erzählungen von Miljenko Jergovic´ erscheinen im Folio-Verlag; bislang wurden gedruckt Sarajevo Marlboro, Karivani, Mama Leone; der zitierte Essay findet sich im Sammelband Verteidigung der Zukunft. Suche im verminten Gelände.Matthias Rüb / Oliver Tjaden, Flucht in die Zukunft - Bosnien nach dem Krieg, Benteli Verlag Bern.Susan S. Senstad, Das Nullkind, dtv premium.
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