Proteste der fliegenden Besen

Multiple Moderne Die Türkei kann auf eine lange Tradition der Frauenbewegung zurückblicken. Auf dem Weg in die EU spielen die feministischen Kämpfe eine wichtige Rolle

Türkische Frauen sind seit langem politisch aktiv. Sie gründeten Frauenorganisationen und Zeitschriften mit klangvollen Namen wie Die Welt der Frauen (Kandinlar Dünyasi), bestreiten Kampagnen, diskutieren und kämpfen gegen Diskriminierung. Sie gingen und gehen, angemeldet und auch unangemeldet zu Protesten auf die Straße. Sie streiten für Frauen- und Menschenrechte: Ein gelegentlich durchaus riskantes Unterfangen, wie die unangemessene und brutale Reaktion der türkischen Polizei gegen Demonstrantinnen am 5. März diesen Jahres zeigte.

Die türkische Frauenbewegung entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Spätphase des Ottomanischen Reiches. Es waren vor allem die gebildeten Frauen, die über gute Kontakte zu anderen europäischen Ländern und in die USA, zu den ersten Frauenbewegungen verfügten, die sich aufmachten, für die Rechte der Frauen, den Zugang zu Bildung und Erwerbsmarkt, die Abschaffung der Polygynie und der "Peçe", einer islamischen Gesichtsbedeckung, zu streiten. Die Orientierung gen Westen stand dabei für ein Mehr an Eigenständigkeit und Freiheit. Die Gründung der Türkischen Republik von 1923 knüpfte mit den ersten Bildungseinrichtungen und Berufszugängen für Frauen an die Reformen des Ottomanischen Reiches an und brachte große Durchbrüche für die Rechte der Frauen. Die Vielehe wurde verboten, Scheidungs- und Erbrechte zwischen den Geschlechtern egalisiert, und die Frauen erhielten, anders als in vielen anderen europäischen Ländern, das aktive und passive Wahlrecht bereits in den frühen dreißiger Jahren. Nicht gesetzlich geregelt war das Tragen der Kopftücher ("çarsaf", "peçe"), allerdings wurde und wird bis heute ihr Tragen vom Staat abgelehnt.

Mutterland und Militär

Trotz staatlicher Reformen in dieser Zeit blieben die Frauen zunächst weiter organisiert. So stritt Kadinlar Birligi ("Die Frauenunion") weiter für eine adäquate Umsetzung politischer Frauenrechte bis zu ihrer vollständigen staatlichen Anerkennung. Doch es blieb eine große Diskrepanz zwischen formalen Rechten und der gesellschaftlichen Position der Frauen: Sie wurden vor allem als Mütter der Republik und als prostaatliche Unterstützerinnen der Einparteienregierung von Atatürk und seiner Republikanischen Volkspartei wahrgenommen. Frauen, die auf der öffentlichen Bühne auftraten, waren in der Regel Ehefrauen hochrangiger Militärs. Eine Sage erzählt von der besonderen Art der Beziehung zwischen Frauen und dem Militär. Ihr zufolge schützt das Militär das "Mutterland" Anatolien (Ana=Mutter), die Frauen ihrerseits unterstützen das Militär durch Verpflegungsleistungen.

Die Entwicklung zu einer säkularisierten Staatsführung verlief nicht ohne Spannungen zwischen dem neuen Staat und den religiösen Kräften des Landes: Religiöse Familien schickten ihre Töchter oftmals nicht auf die staatlichen Schulen, was die Kluft zwischen staatlichen Reformen und gesellschaftlicher Stagnation noch erhöhte.

Konventionelle Geschlechterbilder prägten die fünfziger Jahre in der Türkei, Frauen wurden vor allem als die Erzieherinnen der nächsten Generation betrachtet. Mit den sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre traten politische Aktivistinnen auf, die, im Selbstverständnis als Linke, soziale Ungleichheit und Klassengegensätze kritisierten. Damit ging die politische Erfahrung einher, dass gesellschaftliche Rechte nicht nur "von oben" eingeräumt, sondern auch von "von unten" eingefordert und erstritten werden können.

Die siebziger Jahre brachten nicht nur starke linke, sondern auch starke nationalistische und islamische Bewegungen hervor. Während Frauen in die linken Bewegungen - wenn auch entlang arbeitsteiliger, traditioneller Geschlechterrollen - integriert waren, war dies bei den nationalistischen beziehungsweise islamischen Bewegungen sehr viel weniger der Fall. Dennoch bekamen Frauen auch im konservativen Feld neue Rollenangebote, die traditionelle und progressive Aspekte zu neuen Lebensmustern verbanden. Zu einer Symbolfigur wurde Sule Yüksel, die sich entschloss, religiös zu leben, ohne sich der islamischen Bewegung anzuschließen. Yüksel gründete gemeinsam mit Gleichgesinnten eine Zeitschrift mit dem Titel Seher Vakti ("Die Zeit vor dem Sonnenaufgang"). Dort erschienen Artikel etwa über die Ethik im Islam und über Erziehungsfragen, in denen die Rolle der Frau weitgehend traditionell dargestellt war. Dennoch fühlten sich viele Frauen als Frauen angesprochen und wertgeschätzt. Yüksels Roman Huzur Sokagl ("Straße des Friedens") von 1968 fand unter Frauen viel Zuspruch. Das Kopftuch erhielt eine neue Attraktivität, weil in ihm die Eigenständigkeit der Frau und eine innere, religiös bestimmte Beheimatung zusammenfanden. Auch die islamische Bewegung bot für viele Frauen einen Ort der Zugehörigkeit. Die Zahl der Kopftuch tragenden Frauen an den Universitäten in den siebziger und achtziger Jahren nahm zu.

Die Journalistin Nilüfer Göle haben sich in den neunziger Jahren unter dem Stichwort Modern Mahrem ("Forbidden Modern") mit sozialem Wandel und Ausdifferenzierungen in vordergründig ausschließlich traditionell erscheinenden Frauenmilieus beschäftigt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Neudefinition von "Moderne" durch die Frauen selbst durchaus Modernisierungseffekte befördert hat, zum Beispiel den Anstieg des Selbst- und Rechtsbewusstseins.

Feministische Milieus

In der Phase nach dem Militärputsch Anfang der achtziger Jahre entwickelte sich eine feministische, türkische Frauenbewegung, deren Erfahrungen und Aktivitäten in vielerlei Hinsicht denen in anderen Ländern Europas und den USA ähnelten: Die Aktionsformen umfassten zum Beispiel Selbsterfahrungsgruppen, Straßenproteste und Zeitungsgründungen; das Spektrum der dort diskutierten Themen reichte von der Kritik geschlechtsbezogener Arbeitsteilung bis hin zur Infragestellung von heterosexuellen Normvorstellungen. Das Thema Gewalt gegen Frauen wurde zum zentralen Punkt feministischer Aktionen, deren Streiterinnen, zumeist städtisch und gut gebildet, Frauen aus den Mittelschichten rekrutierten. Zusätzlichen Auftrieb brachte die zunehmende Internationalisierung der Frauenbewegungen, wie die UN-Frauenkonferenz in Nairobi (1985) und die CEDAW-Konvention aus dem Jahr 1979, die vorsieht, alle Formen der Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen. Die neunziger Jahre waren auch geprägt von Institutionalisierung: gender studies wurden an den großen Universitäten eingerichtet, man baute international finanzierte Beratungsstellen und Frauenorganisationen auf wie Uçan Süpürge ("Fliegender Besen") oder Pazartesi ("Montag"). Die ersten Zufluchtshäuser entstanden ebenfalls in dieser Zeit. Sie existieren seitdem ohne staatliche Finanzierung und sind gegenwärtig aufgrund von Geldmangel vielfach von Schließung bedroht.

Insgesamt lässt sich heute eine erhebliche Ausdifferenzierung feministischer Milieus erkennen: es gibt Frauen in linken Gruppierungen, parteiungebundene Aktivistinnen in zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteifrauen, Frauen mit und ohne Kopftuch. Die Meilensteine der internationalen Frauenpolitik, die Internationale UN-Frauenkonferenz in Peking, die "Habitat II" 1996 in Istanbul, gaben wichtige Impulse für die türkischen Frauenbewegungen, auch für die Organisationen religiöser Frauen, wie zum Beispiel Gökkusagi ("Regenbogen"), die Frauenplattform in Ankara oder Güneydogu Kadin ve Kültür Platformu ("Südost Frauen Kultur Plattform") in Diyarbakir im Südosten der Türkei.

Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft

Heute besteht die Herausforderung aus der Sicht vieler politischer Aktivistinnen darin, Frauen in unterschiedlichen Milieus zu erreichen und zur Zusammenarbeit zu bewegen. Die liberalen Frauen des "Fliegenden Besens" sehen darin die einzige Chance, um auch Frauen auf dem Land über die lokalen Gemeindestrukturen zu erreichen, deren Vorsitzende häufig Mitglieder der AK-Partei sind. Sie initiierten Projekte wie "Mach ein Kissen für dich selbst", - eine Variante des mittleren Ostens von Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein.

Trotz all dieser Aktivitäten bleiben Frauen von den parlamentarischen Politikarenen weitgehend ausgeschlossen. Nur knapp fünf Prozent weibliche Abgeordnete (vergleichbar mit Griechenland und Italien) und lediglich eine für Frauenpolitik zuständige Staatsministerin, Güldal Aks¸it, lassen sich derzeit ausmachen. Auch in den Führungspositionen der Parteien sind nur wenige Frauen zu finden. Damit bildet die Türkei das Schlusslicht in Europa. Auf diesen Umstand reagierte KA.DER, eine Frauenorganisation, die bemüht ist, die Repräsentanz von Frauen in den Parlamenten zu fördern. Dabei ist auch die Kopftuchfrage ein Faktor, dürfen doch Kopftuch tragende Frauen im Parlament nicht tätig sein.

Die statistische Datenlage erschwert gegenwärtig eine realistische Einschätzung der Situation auf dem Arbeitsmarkt. Nach offiziellen Angaben waren im Jahr 2000 lediglich 23 Prozent der Frauen erwerbstätig. Der Anteil der Frauen, die informell und ohne soziale Sicherung tätig sind, dürfte erheblich sein. Andererseits sind unter den ComputerprogrammiererInnen immerhin 50 Prozent Frauen und auch im Hochschulbereich übertrifft die Türkei mit einem Anteil von 30 Prozent Professorinnen westeuropäische Standards, was allerdings auch den niedrigen Löhnen im Hochschulbereich geschuldet ist.

Die Unterschiede zwischen dem urbanen und dem ländlichen Leben beziehungsweise zwischen verschiedenen türkischen Regionen und ihren Standards sind erheblich. Vor allem in den östlichen und südöstlichen Gebieten stellen Analphabetentum (insgesamt 19 Prozent unter den Frauen), so genannte Ehrenmorde, Kinderehen und Vielehe große Probleme dar.

Der EU-Beitritt: Hoffnungen und Sorgen

Seit über 40 Jahren gibt es in der Türkei Hoffnungen auf einen EG- beziehungsweise EU-Beitritt. 1987 hatte das Land sich offiziell um eine Mitgliedschaft beworben, seit 1995 ist es in der Zollunion und 1999 wurde es als Kandidat ohne konkretes Beitrittsdatum anerkannt. Auf dem Brüsseler EU-Gipfel im Dezember 2004 haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Migliedsstaaten angesichts der politischen Reformen in der Türkei entschieden, ab Oktober 2005 mit dem Land am Bosporus über einen Beitritt zu verhandeln. Ein entscheidender Teil dieser Reformen betrifft das türkische Zivil- und das Strafrecht: Im neuen Zivilrecht (von 2002) sind Frauen und Männer gleichermaßen "Familienoberhäupter" und berechtigt, Entscheidungen von Familienbelang, wie etwa über den Wohnort der Familie oder die Schule der Kinder, zu treffen. Das Scheidungsrecht wurde zu Gunsten der Frauen verändert, Kinderehen verboten, das Heiratsalter hochgesetzt. Bezüglich häuslicher Gewalt sieht das Familienschutzgesetz seit 1998 - ähnlich wie die deutsche Fassung - vor, dass der gewalttätige Ehepartner die Wohnung verlassen muss. All diese Reformen wurden von türkischen Frauengruppen seit langem gefordert und im Ergebnis entsprechend begrüßt.

Die Europäische Union ist, ähnlich wie die Konventionen der Vereinten Nationen, ein wichtiger Referenzposten für nationale Politik, sowohl im Sinne normativer Standards, als auch als Ressourcengeber für konkrete Projekte, die den Kampf gegen Diskriminierung im Land unterstützen und die Regierung unter Druck setzen. Dies schafft bei Frauenorganisationen Vertrauen in die Europäische Union. Skepsis, was die Reformfreude im eigenen Land betrifft, wird dort artikuliert, wo es um die Frage der Umsetzung geht. Die Effekte der staatlichen Reformen auf die gesellschaftliche Lage der Frauen sind heute noch nicht messbar und dürften die eigentliche Herausforderung für Staat und Gesellschaft darstellen. In den Parteien und in der Gesellschaft sind auch Ängste der Annäherung an die EU spürbar: So wird Individualisierung vielfach eher als Vereinzelung begriffen denn als Zuwachs an (Entscheidungs-)Freiheit; die (drohende) Auflösung der Familienbezüge wird tendenziell bis hinein in linke Kreise befürchtet. Auf einer Veranstaltung der AK-Partei zum Internationalen Frauentag am 8. März dieses Jahres in Ankara ließ die Frau des Premierministers Emine Erdog?an keinen Zweifel daran, dass es notwendig sei, entschieden den Kampf gegen Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Frauen und den Kampf gegen Gewalt in allen Bereichen aufzunehmen beziehungsweise fortzusetzen. In der sich anschließenden Diskussion wurden aber auch Sorgen deutlich, die mit der EU-Integration verbunden sind, wie etwa die Frage, ob "westliche" Frauen trotz größerer realer Gleichstellung wirklich glücklicher als türkische Frauen seien.

Die Annäherung an die EU mit ihren Anforderungen an Demokratie, Minderheitenschutz und Frauenrechte wird vielfach als staatliches Projekt "von oben" wahrgenommen und durchdringt keineswegs die türkische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Gesellschaftliche Tabus behindern die öffentliche Debatte, ob es um die Kurdenfrage, um den verleugneten Genozid an den Armeniern oder um sexuelle Freiheitsrechte und Homosexualität geht.

Die EU wiederum ist gefordert, die Erfahrungen und auch das Selbstbewusstsein türkischer Frauen im Kampf um ihre Rechte anzuerkennen und zu fördern. Ein nur einseitiger "Opferblick" würde ebenso weit hinter die bereits gelebte politische Realität zurückfallen wie eine Doppelmoral, die vor allem mit dem Finger auf die Türkei zeigt, ohne die Gleichstellung der Geschlechter in allen europäischen Ländern vehement zu betreiben und einzufordern. In der transnationalen Kommunikation wird die EU selbst zu einem Katalysator der europäischen Integration. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen. Für die Zukunft bedeutet dies, Dialogstruktuen in Europa energisch auszubauen. Und: Auch Deutschland braucht die EU als Beschleunigerin. Die zähe Diskussion um das seitens der EU angemahnte Anti-Diskriminierungsgesetz zeigt einmal mehr die Behäbigkeit im eigenen Land.

Dr. Claudia Neusüß ist Politikwissenschaftlerin und Mitgründerin der Berliner Frauengenossenschaft WeiberWirtschaft. Sie arbeitet im Bereich Politikberatung und Projektentwicklung mit Schwerpunkt EU-Integration und der Frauen- und Geschlechterpolitik.

Dr. Emel Topçu-Brestrich ist Sozialwissenschaftlerin. Sie arbeitete 20 Jahre als Mathematiklehrerin in der Türkei. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen interkulturellen Projekten, unter anderem bei EPIL (European Project for Interreligious Learning).


Literaturempfehlungen:

Gul Aldikaçti Marshall: Die feministische Frauenbewegung in der Türkei und die Europäische Union, in: Ingrid Miethe/ Silke Roth (Hg.): Europas Töchter, Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauenbewegungen in Europa, VS Verlag, 2003

Emel Topçu-Brestrich: Muslimische Frauen in Deutschland, in: Vito Palmieri/Helmut Ruppel/Ingrid Schmidt/Wolfgang Wippermann (Hg.), Durch den Horizont sehen, Lernen und Erinnern im interreligiösen Dialog, Wichern Verlag, 2005

Göle Nilüfer: Modern Mahrem, Metis Verlag, 1991


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