Wer dem „heißen Herbst“ gegen Inflation und Energierarmut die Temperatur fühlen will, muss in die ostdeutschen Kleinstädte fahren: nach Bernburg oder Aschersleben, nach Grimma oder Halberstadt. Hier sind sie auf der Straße, manchmal einige Hundert, manchmal 2.000 Menschen. Viele demonstrieren schon länger: Bis zu diesem Winter war es die Coronapolitik, die hier für das Versagen des politischen Systems der Bundesrepublik stand. Seit dem Sommer rücken Energiekrise und Inflation in den Mittelpunkt. Die Teilnehmerzahlen steigen wieder.
Schon länger tauchen auf den Demonstrationen Russlandfahnen auf. Die Forderung, Nordstream 2 zu öffnen und die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, ist in Ostdeutschland über politische Spektren hinwe
tren hinweg konsensfähig. Hier mischt sich eine diffuse Sympathie für Putin als starker Mann, der dem Westen den Stirn bietet, mit Skepsis gegenüber der Erzählung der Nato als Wohlstands- und Friedensgarant. Dass die transatlantische Partnerschaft im Kalten Krieg den Frieden gesichert habe, entspricht nicht der zeitgeschichtlichen Erfahrung im Osten. Den Russen hingegen ist nicht vergessen, dass sie im Herbst 1989 keinen Schuss abgaben und friedlich das Land verließen.Das ostdeutsche Verhältnis zu Russland ist dabei sehr ambivalent. Zu DDR-Zeiten genossen die „Freunde“, wie die Russen im Parteideutsch genannt wurden, keinen guten Ruf. Doch die Verbindungen des Ostens wirken nach: Unzählige Firmen verdanken ihren bescheidenen Wiederaufstieg nach den Transformationsjahren den alten Geschäftsbeziehungen nach Russland.Inflation und Energiekrise aber führen Handwerker im Osten nun in Existenznot. In Offenen Briefen wenden sie sich direkt an die Bundesregierung in der Erwartung, der Energieknappheit durch die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland Abhilfe zu schaffen. Diese Briefe lesen sich nicht unähnlich jenen Eingaben der Bürger an die Regierung der DDR, Versorgungsmängel administrativ zu beenden. Sie sind eine Mischung aus Petition, politischem Forderungskatalog und Appell an die Instanz eines guten Königs, der alles weise und umsichtig richten solle, von dem man sich im Falle der Nicht-Erfüllung der Forderungen scharf abwenden wird.Die emblematische Figur dieses Handwerker-Protests ist Karl Krökel. Der Obermeister der Metallinnung Dessau-Roßlau hat in seinem Leben schon einige Parteien ausprobiert: Er war mal in der SED, kandidierte schon für die AfD, und verklagte jüngst den Obersten Handwerkschef Hans Peter Wollseifer, der sich hinter die Sanktionen gegen Russland stellte. Zur Politik pflegt Krökel ein instrumentelles Verhältnis: Was zählt, ist nicht die Programmatik einer Partei, sondern deren Nutzen für die Durchsetzung eigener Interessen. Dieser Vorgang ließ sich in 30 Jahren repräsentativer Demokratie im Osten oft beobachten: Erfüllt eine Partei Erwartungen nicht, wenden sich die Wähler von ihr ab. Nacheinander haben dies die CDU, die PDS / Linke und die SPD erlebt. Nur der AfD ist der Liebesentzug der Ostdeutschen erspart geblieben – bislang. Deren Kundgebungen sind in Magdeburg und Erfurt choreografiert wie ein Helene-Fischer-Konzert: Professionelle Bühnen, Banner aus dem Digitaldruck. Dazu Reden von Funktionären, zum Schluss ein Lied, mit anschließender Demo durch die Stadt. Auch hier zeigt sich: Keine Parteikampagne kann eine politische Dynamik initiieren.Konkrete Forderungen nach einem Gaspreisdeckel hört man wenig auf den Marktplätzen, dafür viel antiimperialistische Rhetorik. Wohin wird es gehen in Bernburg, Aschersleben und Altenburg?