„Wenn wir einen Kriegsverbrecher sehen wollen, müssen wir nur in den Spiegel schauen“
Musik Bob Dylan verneigt sich mit seiner „Philosophie des modernen Songs“ vor 60 Liedern anderer Musiker. Dabei erzählt er in seinem ersten Buch seit fast 20 Jahren immer auch von sich selbst
Die deutsche Ausgabe von Bob Dylans erstem Buch seit 2004 ziert eine Nahaufnahme des Fotografen William Claxton. Sie zeigt einen nachdenklichen Menschen, einen Philosophen vielleicht. Dieses Bild von Dylan harmoniert mit dem Ehrfurcht gebietenden Titel Die Philosophie des modernen Songs. Ganz anders das Cover des amerikanischen Originals: Wir sehen drei Musiker, Little Richard, Eddie Cochran und Alis Lesley (als „weiblicher Elvis“ wenig erfolgreich vermarktet), die lächelnd und in lässiger Pose die Seriosität des Unternehmens ironisch unterminieren, ihn und uns von der Annahme befreien, es mit einem Diskurspop-Elaborat oder dem eines Musikwissenschaftlers zu tun zu haben. Dylan bleibt unterwegs auf den Rough and Rowdy Ways, die er auch zum Programm seiner gegenw&
ogramm seiner gegenwärtigen Tournee erhoben hat.Das Buch ist die lustvoll illustrierte Ausbuchstabierung von Dylans Lebensprogramm, wonach in der modernen Gattung „Song“ alles unterzubringen ist, was heute Menschen betrifft: Alltagsängste wie Alltagsglück, die ganze Palette der Gefühle wie der Gedanken und Ideen, unser Gelungen- wie Misslungensein. All das offen oder versteckt artikuliert in 60 Songs vornehmlich aus dem Great American Songbook, das der Autor selbst nobelpreiswürdig bereichert hat und vor dessen Protagonisten er sich nunmehr beinahe demütig verneigt.Das Buch ist komponiert wie ein gelungener Dylan-Song, ein Kondensat verschiedener Schichten. Da gibt es die Ebene purer Unmittelbarkeit, die Dylans Erstbegegnungen seit seiner Jugend evozieren: Zu jedem Song wird uns – wir werden ganz direkt angesprochen, in den Kreis der Eingeweihten einbezogen – die emotionale Wucht und Tiefe des jeweiligen Songs in einem nur beinahe anarchischen Assoziationsstrom vermittelt. Gleich auf der ersten Seite, es geht dort um Bobby Bares urbanen Countrysong Detroit City, wird ein düsterer Grundton angeschlagen („Dein Leben geht in die Binsen. Du bist in die große Stadt gekommen und hast Dinge über dich erfahren, die du nicht wissen wolltest, du warst zu lange auf der dunklen Seite.“), der danach nur selten abklingt. Etwa wenn der Autor mit Domenico Modugnos und Franco Migliaccis Volare anfängt, (zu) hoch zu fliegen („Du loderst wie ein Komet, rast hinauf zu den Sternen. Vielleicht bist du verrückt, aber du bist kein Idiot.“)Placeholder image-1Auf den an den Poeten der Beat Generation geschulten Bewusstseinsstrom folgt stets ein reflexiverer „essayistischer“ Part. In diesem werden die Hintergründe des Songs erläutert (etwa der homosexuelle Background von Tutti Frutti, den Interpreten wie Elvis anders als Little Richard, der Prediger „aus dem verschwitzten Zeltgottesdienst“ und „Meister der Zweideutigkeit“, vielleicht gar nicht gekannt haben), Komponisten und Interpreten in eigenwilliger Perspektive porträtiert (wunderbar die knappe Charakterstudie von Townes van Zandt: „Als quadratischer Keil im runden Kreis einer wohlhabenden Familie geboren, versuchte Townes sich anzupassen und wie sein Vater Anwalt zu werden.“) oder essenzielle Fragen angesprochen, etwa wenn Dylan exemplarisch das von Norman Whitfield und Barrett Strong für die Temptations geschriebene Ball of Confusion als einen „Song über das Menschsein“ identifiziert.Bob Dylan schreibt über Verbrecher und OutlawsDie Themenliste ist umfangreich: Es geht um Liebe in desaströsen Zeiten, die CIA, Religion in einer postreligiösen Welt, das Verhältnis von Kunst und Geld, den Unterschied zwischen Outlaws und Verbrechern („Verbrecher können Dienstmarken tragen, Armeeuniformen oder sogar im Repräsentantenhaus sitzen. Sie können Milliardäre sein, Heuschrecken oder Analysten an der Börse. Sogar Ärzte. Aber ein Outlaw wird von keiner Gruppe geschützt.“), die Vergeudung des kostbarsten Humankapitals: Zeit („Wie lange wird es dauern, bis du merkst, dass dein unproduktives Leben die reinste Verschwendung ist, aber andererseits, was hast du zu verlieren?“) und immer wieder um die an Camus’ Sisyphos erinnernden Ausbruchsversuche aus der Banalität, die der Autor in seinem Klassiker All Along the Watchtower ehedem paradigmatisch beschrieben hat.Es ist nicht ganz leicht, sich in diesem Kompendium der modernen Songliteratur zurechtzufinden: Gibt es eine Logik in der Abfolge der ausgesuchten Songs? Warum folgt auf My Generation (1965) Harry McClintocks Jesse James (1928)? Warum fehlen nennenswerte Ausflüge in die Songwelten von Neil Young oder Joni Mitchell, um nur zwei Namen zu nennen? Wie schon viele Hörer seiner inzwischen legendären Radioshow Theme Time Radio, ohne die Dylans neues Buch wohl kaum entstanden wäre, werden viele Leser, die nicht Americana-Experten sind, auf zahlreiche no-names stoßen. Wieso beschäftigt sich der wohl berühmteste Songwriter mit ihnen? Warum taucht Cézanne, einer von Dylans Lieblingsmalern, im Kontext von Tutti Frutti auf, wie lässt sich überhaupt das Verhältnis von Text und den 150 Bildern in diesem Buch, das zum Lesen wie zum lustvollen Blättern animiert und durch das Bildmaterial eine weitere Bedeutungsebene eröffnet, angemessen fassen? Die Bilder zu My Prayer (1956) von den Platters (insbesondere das Foto einer amerikanischen Familie beim Festmahl-Tischgebet) sind beispielsweise mindestens ebenso aussagekräftig wie der dazugehörende Text.In gewisser Weise ist das Buch auch die lang erwartete Fortsetzung seiner autobiografischen Chronicles, deren zweiter Band längst erschienen sein sollte. Denn wenn Dylan über einen Song schreibt, schreibt er stets auch über sich: als eine komplexe, „multitude“ Person, in der sich eine zerrissene Welt wie die unsere wiedererkennen kann. All seinen Vorlieben in der Musik, der Kunst (hier nicht zuletzt der Fotografie, die schon an den Covers seiner späten Alben ablesbar war), dem Sport (etwa dem Boxen), geht er nach, huldigt seinem Faible für Eigenbrötler, skurrile Gestalten und Outlaws (nicht zu verwechseln mit den „Outlaws des Gangster Rap und der Country Music“), den Verfertigern von Songs der Frustration wie The Clash und des Leidens wie die des als Santee Dakota in Nebraska geborenen John Trudell.Dem Protestsong getreuWie wir alle wissen, hat sich Dylan anders als Bono oder Springsteen (Namen aus dem deutschsprachigen Raum wären leicht zu ergänzen) mit den Mächtigen unserer westlichen Welt selten gemeingemacht. Er ist, wie auch seine Songauswahl zeigt, eine sehr amerikanische Person. Aber zu unserem Glück noch immer die des „anderen“ Amerikas, von dem Greil Marcus und Sean Wilentz berichtet haben. Der Autor von Masters of War ist und bleibt weder ein Freund des vorigen noch des jetzigen Präsidenten. Nachdenkend über das Amerika der Kriege gegen Japan, Vietnam und den zweiten Irakkrieg zitiert er den im Krieg gegen Japan engagierten amerikanischen General Curtis LeMay, der zusammen mit dem späteren Verteidigungsminister Robert McNamara im Zweiten Weltkrieg bei der Bombardierung von 67 japanischen Städten und der anschließenden Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki eine traurige, Hunderttausende Menschenleben vernichtende Rolle gespielt haben soll: „Wenn wir den Krieg verloren hätten, wären wir als Kriegsverbrecher angeklagt worden.“Placeholder image-2Dylan, der sich seit langer Zeit skeptisch gegenüber seinem alten Genre des Protestsongs äußert, bleibt der Linie seines 1964-Klassikers With God on Our Side treu, wenn er schreibt: „Als Volk neigen wir dazu, sehr stolz auf uns und unsere Demokratie zu sein. Wir stellen uns in eine Kabine, geben unsere Stimme ab und heften uns „Voted“-Aufkleber wie Ehrenabzeichen an. Aber die Wahrheit ist komplexer. Nach Verlassen der Kabine haben wir genauso viel Verantwortung wie beim Betreten. Wenn die Leute, die wir wählen, andere in den Tod oder Schlimmeres schicken – Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel, an die wir keinen Gedanken verschwenden, weil sie nicht so aussehen und nicht klingen wie wir –, und wir nichts tun, um es zu verhindern, sind wir dann nicht ebenso schuldig? Wenn wir einen Kriegsverbrecher sehen wollen, müssen wir nur in den Spiegel schauen.“Respekt. Wenn wir hierzulande eine oder einen hätten, der im traurigen Land der ehedem Friedensbewegten ähnlich wahrhaftig über die „Verwicklungen der Freiheit“ (Axel Honneth) schreiben und denken könnte, wäre es besser um uns bestellt.Dylans Buch endet mit einer Reflexion über Musik, die uns an Hegels Bestimmung von Philosophie denken lässt: „Aber so ist es mit der Musik. Sie entspringt ihrer Zeit, ist aber zeitlos; durch sie entstehen Erinnerungen und das Gedächtnis selbst. Auch wenn wir dies selten berücksichtigen, baut die Musik so sicher auf ihrer eigenen Zeit auf, wie ein Bildhauer oder Schweißer im physischen Raum arbeitet. Musik überwindet die Zeit, weil sie in ihr lebt“.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.