Proust

A–Z Was Sie bisher noch nicht über Proust wussten: In „Marcel Proust. Leben in Bildern“ unseres Gastautors A. Isenschmid erfahren Sie es. Eine Recherche von Asthma bis Zut
Ausgabe 20/2017
Proust

Foto: Costa/Leemage/AFP/Getty Images

A

Asthma Mit zehn hatte Proust den ersten Asthmaanfall, da flanierte der Knabe durch den Bois de Boulogne. Eine Lungenentzündung beendete sein Leben.Walter Benjamin behauptet, dass Prousts lebenslange Kurzatmigkeit in A la Recherche du Temps perdu spürbar ist:„Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen, wenn nicht seine Kunst es geschaffen hat. Seine Syntax bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Erstickungsangst nach“, schreibt der Proust-Übersetzer. Arbeit und Alltag des Autors jedenfalls sind geprägt von der Krankheit (➝ Haushalt).

1920 berichtet er Marcel Boulenger, er könne kaum schreiben, da er seit Tagen an Atemnot leide. Ob Benjamin recht hat, Prousts „ironische, philosophische, didaktische Reflexion“ (➝ Wahrheit) mit einem „Aufatmen“ zu vergleichen? Proust ist mit Kaffee, Bier, Barbituraten, Opiaten, Aspirin behandelt worden. Vergeblich. Auch ein Aufenthalt in einem Sanatorium für Geisteskranke – Asthma wurde um 1900 als nervöses Leiden angesehen – brachte keine Besserung. Mladen Gladić

F

Fiebermessen Fotografieren, Röntgen und auch Fiebermessen sind Techniken der Sichtbarmachung. Beschränkt sich Röntgen auf Klinik und Arztpraxis, findet sich das Thermometer um 1900 auch im Haushalt. Leserinnen und Leser von Sedgwick bis Benjamin haben Prousts Rhapsodien über das kleine Glasutensil bemerkt. Die Krankenszene in Guermantes beginnt nicht mit der Untersuchung der Großmutter, sondern mit der des Messinstruments. Marcel nennt es „silberner Salamander“, „kleiner Zauberer“, „Sibylle“, „Prophet“. Scheinbar tot, erwacht es im Mund zum Leben: Es zeigt genau die „Ziffer, die alle Betrachtungen, welche die Seele meiner Großmutter über sich selbst hätte anstellen können, außerstande waren, ihr zu liefern: 38,3°“. Das Instrument ist präziser als die Kranke, das Ergebnis ist aber rätselhaft, chiffriert. Es verweist auf die transparenten Lektüren, die solche Instrumente ermöglichen . Es markiert aber auch die unaufhaltsame Wiederkehr mystischer Dingaspekte: das Erquicken des Quecksilbers. Das Thermometer verkörpert die unreflektierten, lakonischen Zeichen der wissenschaftlichen Beschreibung und die trotzige Lebendigkeit der unbelebten Dinge. Alice Christensen

Film Ist die Recherche verfilmbar? Oder ist sie gerade filmisch? Mehrfach haben sich Regisseure an Prousts Romanzyklus gewagt. Volker Schlöndorff in „Un Amour de Swann“, Chantal Akerman in „La captive“ oder Raúl Ruiz in „Le temps retrouvé“. Letzterer hat sich genau an die Vorlage gehalten, wenn auch das Drehbuch eigene Erfindungen und Anleihen aus anderen Teilen der Recherche enthält. Herausgekommen ist ein opulenter Kostümfilm, 160 Minuten lang und mit berühmten Akteuren wie Catherine Deneuve und John Malkovich. Der Film beginnt in Prousts Schlafzimmer, wo sich der Autor mit einer Lupe alte Fotos ansieht und sich zu erinnern beginnt. Damit wird auf das Stilmittel angespielt, das in Ruiz’ Le Temps retrouvé zum Einsatz kommt – das „Tableau vivant“. Diese „lebenden Bilder“, die den Film ausmachen, spielen auf verschiedenen Zeitebenen, wechseln beständig – und verwirren. Aber gerade diese Desorientierung macht letztlich den großen Reiz aus. Behrang Samsami

G

Gewohnheit Obwohl die Recherche oft in dem Highlight einer ästhetischen Offenbarung zusammengefasst wird (➝ Zut), sind die Beschreibungen des Alltags der Figuren, des Gewöhnlichen und des Langweiligen in dem ausufernden Roman spannender zu lesen. Viele Protagonisten ertragen es: Tante Léonie nennt den überschaubaren Tages- und Wochenablauf ihrer letzten Jahre „traintrain“, bettlägerig wie der späte Autor (➝ Asthma) hält sie an regelmäßigen Mahlzeiten, Besuchsgästen und dem Katechismus fest.

Ist einer der Getreuen schließlich in den Clan aufgenommen, gelingt es nur durch schwerwiegende Gründe (berufliche, Mütter), sich den hochritualisierten Versammlungen der Verdurins, die wöchentlich mehrmals stattfinden und auch die Ferien beanspruchen, zu entziehen. Noch spannender ist es, nachzulesen, wie es gelingt, sich eine herbeigesehnte Gewohnheit anzueignen (Schreiben), sie abzulegen oder einfach als solche zu erkennen, als arbiträrer Automatismus, sei es, weil er in die Obsession gekippt war oder sich als irrige Wertschätzung vermeintlich bedeutungsvoller Abläufe („faire cattleya“) erwies. Eva Erdmann

H

Haushalt „Niemand außer Ihnen kennt mich wirklich. Niemand weiß so gut wie Sie, was ich tue, niemand kann all das wissen, was ich Ihnen sage. Nach meinem Tode wird sich Ihr Tagebuch besser verkaufen als meine Bücher.“ Diese Worte soll Marcel Proust gegenüber Céleste Albaret (1891 – 1984) geäußert haben. Ein Tagebuch hat die Haushälterin nicht geführt. Dafür lässt sie 1973 ihre Erinnerungen an Proust, dem sie neun Jahre, bis zu seinem Tod, gedient hat, von dem Journalisten und Schriftsteller Georges Belmont aufzeichnen. Albaret, Ehefrau von Prousts Taxichauffeur, passt sich schnell dem Lebensrhythmus des lungenkranken Schriftstellers an (➝ Asthma): Tagsüber schlafen, nachts arbeiten.

Sie sorgt für Ruhe und dafür, dass Proust seine Gewohnheiten nicht unterbrechen muss – er, der seit Herbst 1914 ausschließlich dafür lebt, seine Recherche fertigzustellen. Wir hören Proust beispielsweise von seinen Eltern erzählen und von Menschen, die er als Modelle für Romanfiguren ausersehen hat. Dabei staunt man gelegentlich, wie genau sich die Haushälterin – nach über fünfzig Jahren – noch an so viele Einzelheiten erinnern kann. Wie es sich auch verhält: Albarets Bewunderung für Proust ist auf jeder Seite spürbar. 1981 dreht Percy Adlon übrigens mit Céleste einen Film über den Schriftsteller und seine Haushälterin. Behrang Samsami

Hören Zu den kostbaren Schätzen, die uns aus der Masse der Büchermenschen herausragen lassen, gehört die Lektüre der Recherche. Zwar ist das „Ich habe Proust gelesen!“ an sich ein Wert, aber dann fangen die feinen Unterschiede an: Wer sie nur auf Deutsch gelesen hat, steht ebenso wenig in der ersten Reihe, wie der, der sie nicht in einer Klausur gelesen hat. Und wer nicht aus dem Stand sagen kann, womit sich Charlus schlagen lässt, muss ebenso vorsichtig sein wie der, der den Unterschied von Metapher und Metonymie gerade nicht erläutern kann.

Man sieht: Proust kann man nicht einfach so lesen. Proust lesen lautet deshalb der ultimative Titel eines Bandes darüber. Nicht: Proust hören. Dabei ist das Hören der Gesamtlesung im Hörbuchverlag ein ureigenes Vergnügen. Das liegt nicht nur an der bezaubernden Stimme von Peter Matić. Es kann einem diebische Freude bereiten, die raffinierte Lektüre mit einem vulgären Hörakt zu profanieren (vergleichbar Albertines Freundin Andrée, die auf ein Bild – von Elstir? – uriniert). Also am besten beim Joggen hören. „Es ist eigenartig, diese kunstvolle Sprache zu hören, während man sich seinen Weg durch einen Hundehaufen-Parcours bahnt“, bemerkte Jochen Schmidt (➝ Théâtrophone) in seinem Hör-Bericht für den Freitag. Nur Banausen sehen darin eine besonders raffinierte Form von Snobismus. Michael Angele

J

Jüdisch Proust war katholisch getauft, liebte Kathedralen, verklärte die Dorfkirche Combrays. Katholisch war auch die Herzogin von Guermantes und ihr famoser Esprit de Guermantes. Da tauchte nach seinem Tod ein Brief auf, in dem er gestand, „die Leute von Welt“ seien „so dumm“, dass er für besagten Esprit sein „Modell nur bei einer nichtadligen Frau“ habe finden können, bei Geneviève Straus. „Ich habe ihre ganze Konversation imitiert.“ Straus war nichtadlig, aber vor allem jüdisch und hielt einen von Anfang an für Dreyfus einstehenden Salon. Daher sind die Gespräche zwischen der Herzogin und der jüdischen Hauptfigur Swann gewissermaßen innerjüdische Konversation.

Woran Proust freilich gewöhnt war: Die Mutter war jüdisch, und im Familienkreis war der Vater der einzige Nichtjude. Der Trauzeuge der Eltern war Adolphe Crémieux, Justizminister und erster jüdischer Parlamentarier Frankreichs. Der Großonkel Godchaux Weil war ein früher jüdischer Erzähler. Sein Grandeur et décadence d’un taleth polonais liest sich wie das Muster von Swanns Geschichte von dem Verrat seines Judentums durch die Tochter Gilberte. Andreas Isenschmid

T

Théâtrophone Anders als man bei Marcel Proust vermuten sollte, hat er sich immer für Technik und ihr poetisches Potenzial interessiert und darüber in der Recherche geschrieben (➝ Fiebermessen). Die Beeinflussung der Wahrnehmung durch das Fahren mit der Bahn oder dem Automobil, Flugzeuge, elektrisches Licht, Staubsauger, das majestätische Bild deutscher Zeppeline über Paris, die Fotografie, der gespenstische Effekt, beim Telefonieren die Stimme eines Abwesenden zu hören, die mystische Wirkung von Ohrstöpseln, wenn alle Anwesenden zu Geistern werden, die sich lautlos zu bewegen scheinen.

Um zwei Geräte beneide ich Proust, um den Apparat, mit dem er aus Angst vor Mikroben seine Post desinfizierte, und um das Théâtrophone, eine Telefonleitung über die er abends Pariser Konzerte und Opernaufführungen live mithören konnte. Ich frage mich immer, wie dieser stets auf neuen Klatsch versessene Mensch mit dem Internet klargekommen wäre – hätte es ihn vom Schreiben abgehalten? Oder hätte er es geschafft, auch darin etwas Poetisches zu entdecken? Jochen Schmidt

W

Wahrheit Ewiger Salongänger, schnödeten viele Zeitgenossen. Endloser Salonbeschreiber, ächzen viele Leser heute. Wie froh war Proust, als er auf einen stieß, der ihn verstand: „Endlich finde ich einen Leser, der erahnt, dass mein Buch ein wohldurchdachtes und streng konstruiertes Werk ist“, schrieb er am 6. Februar 1914 an Gallimard-Lektor Jacques Rivière. Die Recherche sei keine nach simplen Salon-Erinnerungen, sondern „Suche nach der Wahrheit“. Er ziehe es vor, diese „nicht abstrakt zu zergliedern“, sondern die Leser durch Irrtümer und Missverständnisse zu führen.

Vieles am Anfang sei „das Gegenteil dessen, was ich zum Schluss folgere, (…) eine Zwischenstation, scheinbar subjektiv und unverbindlich, auf dem Weg zur objektivsten und zugleich gläubigsten aller Folgerungen“. Proust war von den Zeiten jugendlicher Adelsverklärung bis in die Stunden der Todesnähe ein fast religiös formulierender Wahrheitspathetiker. Die Aufgabe der Literatur sei der „Widerstand gegen den Tod“, die „Widerauferstehung“. Die Wahrheit: Sie „beginnt, wenn der Schriftsteller in zwei Empfindungen etwas Gemeinsames aufzeigt und so ihre gemeinsame Essenz freilegt, wenn er, um sie den Zufälligkeiten der Zeit zu entziehen, die eine mit der anderen vereint: in einer Metapher“. Andreas Isenschmid

Z

Zut Marcel spaziert im regnerischen Herbst durch die Landschaft um Combray. Sein Blick fällt auf ein nasses Ziegeldach. Eine Hütte am Teich, die Sonne bricht durch, und wieder dieses Glücksgefühl wie bei der Madeleine. Das Dach spiegelt sich im Teich als „rosiges Geäder.“ „Und als ich im Wasser und auf der Fläche der Mauer ein schwaches Lächeln dem Lächeln des Himmels Antwort geben sah, rief ich in meiner Begeisterung: ‚Verflixt noch mal, verflixt noch mal!‘“ Im Original: „Zut, zut, zut, zut.“ Das Zut! ist der Urkern des Romans. Marcel fühlt sich verpflichtet, nicht bei solchen opaken Worten stehen zu bleiben, seinem Entzücken klaren Ausdruck zu geben. Das mündet in sieben Bänden, in denen das begrifflose Zut in einen Kosmos der Beschreibungskunst explodiert. Michael Maar

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