Es darf einfach nicht wahr sein! Christoph Marthaler ist gekündigt worden. Am letzten und aus Trauer sehr verregneten Samstag im August 2002 haben wir es erfahren. Zwei Tage vorher war Marthalers Schauspielhaus von einer größtenteils deutschen Kritikerrunde zum "Theater des Jahres" gewählt worden, einmal mehr und als erstes Theater der Schweiz zum zweiten Mal hintereinander. Jetzt soll alles vorbei sein. Das ist fatal und falsch, beschämend, niederträchig, provinziell. Das ist eine Watsche gegen die Kunst, die Demokratie und den gesunden Menschenverstand. "Das Zürcher Schauspielhaus trennt sich auf Ende der Saison 2002/03 von seinem künstlerischen Direktor Christoph Marthaler. Dies teilte der Verwaltungsrat mit", hieß es am vergangenen Samstag.
g. Zu wenig Zuschauer würden eine so "eigenwillige" Leitung garantieren, Besserung sei "nicht absehbar".Wer jetzt in Zürich denken kann, ist niedergeschmettert. Was haben wir für diese Marthaler-Intendanz gekämpft in den letzten zwei Jahren! Wir haben verloren. Nicht nur Christoph Marthaler und Stefanie Carp und Anna Viebrock und wie die großen Heldinnen und Helden des Zürcher Schauspielhauses alle heißen. Wir. Die ganze Stadt. Es ist deshalb so sagenhaft unfassbar, so absolut bis zur Betäubung unfassbar, weil diejenige Instanz so sehr für Marthalers stolzes Projekt gekämpft hat, die in der Schweiz laut Verfassung schließlich die größte Entscheidungsmacht hat: das Volk. Am 2. Juni stimmten wir für eine Beteiligung der Stadt an der Baukostenüberschreitung beim Schiffbau und für eine Erhöhung der Jahressubventionen für das Schauspielhaus. Wir taten dies natürlich für Marthaler und seinen Kreativpool von Regieleuten wie Stefan Pucher, Falk Richter, Meg Stuart oder Schauspielstars wie Bibiana Beglau. Wir dachten, ein Volksentscheid wäre von Gültigkeit. Drei Monate später verstehen wir die Welt nicht mehr. Und was bitte hätte sich ausgerechnet in den letzten drei Monaten an Verbesserung der Zuschauerzahlen abzeichnen sollen? Was bitte, meine Herren Verwaltungsräte? Das Theater war in den letzten drei Monaten zu, geschlossen, Sommerferien! Verstehen Sie? ZU!Aus dem Theaterhausbesitzer Christoph Marthaler ist in den vergangenen zwei Jahren eine Art Hausbesetzer geworden. Drei Spielzeiten lang wird Marthaler seine beiden Theater besetzt gehalten haben dürfen. Es werden drei gute Jahre gewesen sein. Jede und jeder in Zürich wird sich in diesen drei Jahren mindestens einmal sehr emotional mit dem alten Schauspielhaus am Pfauen und dem neuen Schiffbau in der Industriezone auseinandergesetzt haben. Das ist viel. Das ist viel mehr, als es in der Zeit vor Marthaler der Fall war. Seit der denkwürdigen Saison 1969/70, als das erzkonservative Zürich den Intendanten Peter Löffler und seinen Hausregisseur Peter Stein aus der Stadt gejagt hatte.Noch ein Zürcher Kulturhaus wurde dieses Jahr längere Zeit von kulturellen Besetzern übernommen, das "Dada"-Haus an der Spiegelgasse im Niederdorf, wo die Dada-Bewegung gegründet wurde und das Cabaret Voltaire entstand. Die illegalen Besetzer waren schneller vertrieben als der legale Marthaler. Der neue Zürcher Stadtpräsident Elmar Ledergerber, der gleiche, der auch im Verwaltungsrat der Schauspielhaus AG sitzt, verhinderte bisher, dass die Besetzer verwirklichen konnten, was Zürich gut angestanden hätte: ein Dada-Museum. Vor zwei Wochen hat Ledergerber eine anarchistisch-aktionistische Ausstellung im Zürcher Helmhaus Museum am Tag ihrer Vernissage verboten. Die Künstler Christoph Büchel und Gianni Motti nahmen Ledergerber zufolge das Thema Geld zu wenig ernst. Jetzt hat er zugelassen, dass das größte Kulturjuwel der Schweiz, die einzige Zürcher Institution auch, die nach dem Crash der Swissair und der Banken eine positive internationale Ausstrahlung hatte, in den Boden gespitzt wird.Schön, wenn diese Heldentaten von der Ära Ledergerber in Erinnerung bleiben werden. Die Ärmel hochgekrempelt und weg mit den lästigen Kreativen. Und dabei ist Herr Ledergerber doch per parteipolitischer Identifikation einer von uns, von der SP nämlich. Die Zürcher Variante des Berlusconi-Effekts. Wer jetzt denken kann in dieser Stadt, der schämt sich und der kämpft. Theaterschaffende und Intellektuelle rufen auf Podien, die Künstlerinitiative "Zürich schreit, Marthaler bleibt" organisierte die erste Demo, Kulturjournalisten ziehen mit Flugblättern bepackt durch die Bars und Clubs. Wir kämpfen den größten kulturellen Häuserkampf, den es in dieser Stadt je gegeben hat. Die Bullen werden wahrscheinlich wieder siegen. Dann wandern wir aus. Mit Marthaler.