Provokative Posen

Medien Waffennärrinnen, IT-Entrepreneurinnen, Räusche: Mit dem neuen Kanal „Broadly“ zeigt Vice.com, dass Großmäuligsein heute auch Frauensache ist
Ausgabe 33/2015

Manchmal zeigt erst ein Perspektivwechsel, was lange verdeckt war. So ist es jedenfalls mit dem in der vergangenen Woche gestarteten Online-Kanal für Frauen, Broadly, und seinem Begründer, dem Magazin Vice. Ursprünglich eine werbefinanzierte kanadische Underground-Publikation, ist Vice längst ist ein internationales Medienimperium, das auch deutschsprachige Ableger hat und in legerem bis krawalligem Duktus über Gräueltaten in Syrien, abstruse Sexpraktiken und Drogenkonsum berichtet – ein journalistisches Format, das sich an beide Geschlechter gleichermaßen richtet.

Seit 3. August ist mit Broadly nun schon der elfte Videokanal von Vice online, und diesmal handelt es sich explizit um einen Women’s-interest-channel. Chefredakteurin der englischsprachigen Seite ist Tracie Egan Morrissey, die zuvor für die Women’s-interest-Seite Jezebel tätig war. Sex, Drogen, Politik, Kultur, Horoskope sind die Broadly-Themen. Und sie sind eben explizit auf weiblich gedreht. Etwa ein Artikel über Sex mit Tieren: Im Magazin ist er aktuell aus männlicher Perspektive zu lesen, für den Onlinekanal ist er aus Frauensicht erzählt.

In der Rubrik „Hangover Helper werden Alkohol- oder Drogenräusche besprochen. Bei Broadly gipfelt die Erzählung, ganz aufs weibliche Publikum zugeschnitten, in einem Blowjob vor versammelter Partygesellschaft. Tatsächlich wirkt der Onlinekanal manches Mal wie Vice mit Weichzeichner. Grundsätzlich stimmen die Redakteurinnen im Tonfall aber in das Vice-typische Lied ein, nach dem die ganze Welt total fucked up ist.

Fassungslos gibt sich eine Broadly-Journalistin zum Beispiel bei einer Videoreportage über Prostitution in Spanien. Ihren Besuch bei einer Sexarbeiterin (in Spanien ist Prostitution nicht verboten, aber auch nicht gesetzlich geregelt) vergleicht sie zu Beginn des Beitrags mit einer Sitzung beim Psychotherapeuten. Am Ende ihrer Recherche, die leider so gut wie nichts Neues zum Thema ergab, findet sie dann keine anderen Worte als: „Schlaft nicht mit Prostituierten!“ Was an journalistischem Handwerk und Überbau fehlt, wird mit Attitüde ausgebügelt. Dieser Vice-Stil gipfelt im Dachmagazin oft in brachial schnodderigen Überschriften wie Thailands Meth Epidemie und Kotz-Reha. Es wird alles getan, um eine imaginierte „CoolKid“-Leserschaft zu befriedigen.

So geschieht es nun also auch bei Broadly. Aber daraus ergeben sich, trotz gelegentlicher Irritationen, auch interessante Effekte – gerade auch aus feministischer Sicht. In Videointerviews sprechen Prominente eben nicht nur über ihre neuen Filme, sondern auch über Sexismus in Hollywood. Porträts stellen Transgender-Menschen vor oder NGOs wie die von Roya Mahboob, einer Afghanin, die Frauen in ihrem Land fit für das technische Zeitalter macht. Reportagen berichten über Abtreibungen, über Frauen, die in Waffen vernarrt sind oder während der Schwangerschaft Alkohol trinken.

Der Broadly-Blick auf die Gegenwart lässt viele verschiedene radikale Sichtweisen zu. Er richtet sich damit an Frauen, die nicht zimperlich sind, an anspruchsvolle Leserinnen, die gängiger Geschlechterklischees überdrüssig sind und die sich trotzdem mit Horoskopen amüsieren wollen. An mehr oder minder typische Millenials, wie sie zum Beispiel in Lena Dunhams epochaler TV-Serie Girls zu sehen sind. Broadly zeigt auf erfrischende Weise, dass das großmäulige Spiel mit Provokation und Posen heute glücklicherweise auch Frauensache ist.

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