Publikum kommt, Volk fehlt

Festival 62. Berlinale Ein anderer Rückblick auf die 62. Internationalen Berliner Filmfestspiele: "Jenseits von Afrika", Gilles Deleuze und warum einem das Volk nur in Piscator-Filmen begegnet

Um einmal mehr einen politischen Anspruch der am Sonntag zu Ende gegangenen 62. Berliner Filmfestspiele zu ­behaupten, spielte Festivalleiter Dieter Kosslick auch dieses Jahr wieder die Afrika-Karte aus. Der „filmisch fast vergessene Kontinent“ werde in Berlin einmal mehr in den Blickpunkt gerückt. Dass er dabei zwei aktuelle Produktionen aus dem Senegal und der Republik Kongo in eine Reihe brachte mit dem kolonialen Rührstück Jenseits von Afrika, das im Rahmen der Hommage an Meryl Streep zu sehen war, macht das Phrasenhafte an diesem Anspruch leider deutlich.

1985, im gleichen Jahr, als Jenseits von Afrika auf den Markt kam, legte der französische Philosoph Gilles Deleuze den zweiten Teil seiner Studien zum Kino vor. Der zentrale Begriff des mit Kino und Politik überschriebenen Kapitels ist „das Volk, das fehlt“. Während das politische Kino der Vorkriegszeit – vor allem das russische, aber auch das amerikanische – das Volk unentwegt gezeigt habe, so Deleuze, gehe es im modernen, politischen Kino um das Volk, „das nicht mehr existiert, oder noch nicht existiert“.

Da die Berlinale ihre Rekordbesucherzahlen gern als Argument für die eigene politische Wertigkeit ins Spiel bringt, war es reizvoll, sich den einen oder anderen Film dahingehend anzusehen, welches Volk auf der Leinwand dem Volk im Saal gegenübertrat. In der Retrospektive „Die rote Traumfabrik“, die den sozialkritischen deutsch-russischen Koproduktionen der Vorkriegszeit galt, war tatsächlich ein Volk zu sehen, das als solches gezeigt wurde (aber nun nicht mehr existiert). Aufstand der Fischer von Erwin Piscator: Nach der Ermordung eines rebellischen Fischers bricht sich die aufgestaute Wut Bahn und das Volk strömt zu Tausenden aus, um seine Ausbeuter zu erschlagen und ins Meer zu werfen. Dazu ein Live-Piano nach wieder entdeckten Fragmenten von Hanns Eisler. Als das Licht im Saal angeht, fühlt man sich etwas zerzaust. Mit den Ohren noch in einer Zeit, als etwas kurz bevorstand, mit den Augen schon wieder im Festivalbetrieb, Jacke, Mütze, Rucksack nicht vergessen.

Kamera und Demokratie

Das Rennen und Wüten der Fischer wäre in einem Berlinale-Trailer womöglich nahtlos an eine Szene aus Tony Gatlifs Indignados geschnitten worden, der die Aufstände des Jahres 2011 zum Bild eines Unisono-Volkes vernäht. Ein voller Saal auch hier, 4- oder 500 Menschen, die sich wohl gewundert haben werden, wie all das so schnell Kino werden konnte. Betrifft es uns überhaupt noch, wenn unsere Wut zu Bildern gerinnt, mit denen sich auch Energydrinks oder Touchpads verkaufen ließen?

Auf einem der vielen Transparente, die Tony Gatlif abgefilmt hat, steht auf Griechisch: „Demokratie und Kameras vertragen sich nicht.“ Er musste sich seiner Sache schon sehr sicher sein, um ein solches Bild ohne Ironie in den Film aufzunehmen. Vielleicht hat es keiner gesehen.

Diese Option bleibt natürlich immer: dass es soviel zu sehen gibt, dass keiner mehr etwas sieht. Am buchstäblichsten wurde die Deleuze’sche Idee vom fehlenden Volk wohl in Denis Cotés Bestiaire umgesetzt. Lange Zeit sehen wir dort nur Tiere. Affen, Emus und Ochsen in der Gefangenschaft eines Familienparks, und als dann im Frühjahr langsam die Menschen sich einfinden, sehen wir auch diese nur noch als eine Spezies unter vielen. Ein schöner Film. Ein politischer Film aber allenfalls auf argumentativen Umwegen, auf denen man sich verläuft und am Ende alleine dasteht. Und den Rucksack vergisst.

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