Putin und die Vollendung des »Jelzinismus«

IM GESPRÄCH Boris Kagarlitzki über Russlands Präsidenten und den Durchmarsch von den Reformen zum Schutz des Eigentums - vom Liberalismus zum Konservatismus

FREITAG: Teilen Sie den Eindruck, dass sich die Lage in Russland derzeit stabilisiert?

BORIS KAGERLITZKI: Ein falscher Eindruck. Das Potenzial für Instabilität ist heute um ein Vielfaches höher als 1994/95. Es passiert folgendes: Je größer die Wahrscheinlichkeit einer Explosion aus ökonomischen Gründen, desto mehr müht sich die Regierung um politische Stabilität. Diese Stabilisierung unter Putin spiegelt eben gerade die gefährliche Instabilität der Gesellschaft.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sagte einer der Berater von Alexander III., man müsse Russland einfrieren. Putin tut genau das - er versucht, alles in eine Erstarrung zu überführen. Doch das ist unmöglich, weil sich ökonomische und soziale Prozesse nicht mit Hilfe von Ideologie aufhalten lassen.

Welche sozioökonomischen Prozesse?

Wir haben heute eine Ökonomie, die vollständig in globale Prozesse eingebunden ist. Entsprechend wird sich eine Rezession der Weltwirtschaft direkt auf Russland auswirken. Und wie es aussieht, ist mit dieser Rezession in zwei, drei Jahren zu rechnen. Die besondere Gefahr dabei ist, dass unsere Wirtschaft heute fast ausschließlich als Monokultur existiert. Sie hängt vollständig von Ölexporten und hohen Ölpreisen ab - wie in Nigeria. Und irgendwann werden die Preise auch wieder fallen, was bereits der Fall ist.

Zweitens ist Russland fortwährendem technologischen Zerfall ausgesetzt. Die aus Sowjetzeiten stammende Technik erodiert, wie das der Brand des Moskauer Fernsehturms gezeigt hat. Eine Periode technogener Katastrophen beginnt. Es wird einfach immer schwieriger und teurer, vorhandenes Potenzial instand zu halten. Und da wäre drittens der Krieg, den wir in Tschetschenien verlieren. Spätestens im Frühjahr wird klar sein, dass wir die Tschetschenen erneut nicht besiegen konnten.

Wie wirkt das auf die Stimmung in Russland?

Seit dem Ende der Sowjetunion sind zehn Jahre vergangen, eine neue Generation ist herangewachsen, die man mit dem Gespenst der schlimmen kommunistischen Vergangenheit nicht mehr schrecken kann. Sie wissen nichts darüber. Die Angst vor einer Rückkehr zum Totalitarismus nimmt ab und wird verschwinden. Eine Bedrohung der Demokratie gibt es nicht, weil es überhaupt keine Demokratie gibt, nur einige Elemente, wie beispielsweise die Pressefreiheit oder die Freiheit des Internets. Dies alles wird nicht von einer kommunistischen Vergangenheit bedroht, sondern durch einen konservativen, verwestlichten Nationalismus, der sich als bürgerlicher Nationalismus formiert. Entsprechend wird sich eine antibürgerliche, antinationale, gegen das Establishment gerichtete, demokratische Bewegung herausbilden. Es geht dabei um Internationalismus und interkulturelle Toleranz, soziale Rechte, Selbstorganisation und Demokratie. Vereint man diese Werte, hat man die Formel für eine neue linke Bewegung, die sich augenblicklich in Russland formiert.

Eine ernstzunehmende Opposition?

Eine außerparlamentarische - zumindest am Anfang, da es keine politischen Möglichkeiten innerhalb des Systems gibt. Warum? Weil alle Parteien untereinander verbunden sind und mehr oder weniger mit dem Kreml arbeiten, auf elementare Weise gekauft sind. Die parlamentarische Opposition ist stärker korrumpiert als die Regierung: Wer in der Fraktion von Einheit (zweitstärkste Formation in der Duma, steht Putin nahe - die Red.) mit der Mehrheit abstimmt, tut das, weil er auf eine Stelle in einem Ministerium hofft. Das ist noch keine Korruption, sondern ganz normaler Karrierismus, den es in jedem Land der Welt gibt. Die Opposition ist sogar noch stärker korrumpiert und kontrolliert, als die Regierungsparteien es sind. Eine außerparlamentarische Opposition ist auch deshalb die einzige Alternative, weil die Duma kein Parlament ist, sondern ein Requisit. Dort kann man kostenlos ein Büro nutzen, dort kann man umsonst telefonieren und einige Bekannte als Mitarbeiter einstellen. Doch reale Politik wird anderswo betrieben.

Ist da nicht auch in Russland so etwas wie der ganz normale Sieg des Neoliberalismus zu verzeichnen?

Ja. Natürlich sind die sowjetische Regierung und die sowjetische Wirtschaftspolitik sehr viel weiter in Richtung Planung und Regulierung der Ökonomie gegangen als irgendeine sozialdemokratische Regierung im Westen. Entsprechend war auch die Kehrtwende viel radikaler als irgendwo sonst in Mittel- und Osteuropa - mit Ausnahme vielleicht von Albanien.

Meiner Meinung nach wird sich die Welt aber auf die Suche nach einer Alternative zum Neoliberalismus begeben, und Russland hat dabei eine bestimmte Rolle. Wenn wir keinen Ausweg aus dieser Lage finden, dann könnte - um ein absolut mögliches Beispiel aus dem konkreten Leben zu nehmen - Anatoli Tschubais (*) in einem Jahr ganz Russland die Heizungen abstellen. Wir brauchen neue Wege, unsere politische Elite ist dazu allerdings nicht bereit.

Es scheint, als könnte sich die politische Situation in Russland recht bald radikalisieren ...

Ja, es gibt aufschlussreiche Entwicklungen, die den Liberalismus betreffen: diejenigen Liberalen, die in der Opposition geblieben sind, nehmen zunehmend linke Positionen ein, und die anderen sind in der Regierung und paktieren mit Generälen des FSB (Inlandsgeheimdienst - die Red.) oder Neoliberalen wie Tschubais. Das heißt, der bisherige Liberalismus verschwindet ...

Was unterscheidet die Putin- von der Jelzin-Ära?

Putin konsolidiert das Regime, das Jelzin geschaffen hat. Er ist gewissermaßen die logische Vollendung des Jelzinismus. Dabei lässt sich der gerade angedeutete Übergang vom Liberalismus zum Konservatismus wie folgt erklären: Der Liberalismus war die Ideologie für die Jahre der Anhäufung von Besitz nach 1990/91. Dafür war keine besondere Ordnung nötig, geschweige denn eine strenge Norm. Man brauchte eine westliche Ideologie - eben den Liberalismus -, um das vorherige System zu diskreditieren und das eigene Vorgehen zu legitimieren. Mit Putin änderte sich das: Alles ist verteilt, aber nichts funktioniert. Jetzt geht es darum, die Rechte der neuen Eigentümer zu schützen. Wobei klar ist, dass man diese Rechte um so aktiver - mit Mitteln des Polizeistaates - schützen muss, je weniger legitim sie sind. Nicht die Reform ist mehr gefragt, sondern der Schutz des Erreichten. Dazu gehört auch ein neuer Nationalismus. Man muss das Volk irgendwie um eine Idee sammeln, damit es das Regime unterstützt, von dem es effektiv bestohlen wird. Wie macht man das? Man braucht etwas, das die Leute mit diesem Regime verbindet - die Nation, die Stimme des Blutes, der Ethnos.

(*) Zeitweilig Privatisierungsminister und Vizepremier unter Boris Jelzin, heute Chef des Konzerns Vereinigte Energiesysteme (EES).

Das Gespräch führte Uli Hufen

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