Putins adrette Kleider

RUSSLAND Russlands Verteidigungsminister Marschall Igor Sergejew über Kreml-Offerten in Sachen strategische Raketenabwehr

Während des russisch-amerikanischen Gipfels Anfang Juni in Moskau haben beide Seiten den Vertrag zur Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme (ABM) als Dreh- und Angelpunkt der globalen Stabilität definiert - trotz fortbestehender NMD-Pläne der USA, die auf das Gegenteil hinauslaufen. Wladimir Putin hatte versucht, die Amerikaner für ein gemeinsames Abwehrsystem zu gewinnen. Ein Angebot, das er bei seiner folgenden Antrittsvisite durch Westeuropa auch einzelnen NATO-Staaten unterbreitet hat. Die Reaktionen auf diesen Vorstoß innerhalb der russischen Generalität reichen von pragmatischem Opportunismus bis zu verhaltener Skepsis. Wir dokumentieren Teile eines Interviews, das die russische Zeitung Nesawisimaja Gaseta dazu mit Verteidigungsminister Sergejew geführt hat.

NESAWISIMAJA GASETA: Die Präsidenten Clinton und Putin haben in Moskau eine Gemeinsame Erklärung über die Prinzipien der strategischen Stabilität und ein Memorandum über ein Gemeinsames Informationszentrum zur Raketenfrühwarnung (ZOD) unterzeichnet. Dazu gibt es von russischen Militärs teilweise recht widersprüchliche Erklärungen - worauf ist das zurückzuführen? Zur Frage einer eventueller Korrektur des ABM-Vertrages bei Veränderung der strategischen Situation, die von einigen als angebliche Bereitschaft Russlands interpretiert wird, den ABM-Vertrag zu modifizieren, möchte ich ganz klar sagen: Artikel 13 des Vertrages sieht eine solche Möglichkeit vor. Davon wurde bereits Gebrauch gemacht, als die UdSSR und die USA übereinkamen, sich im Rahmen von ABM auf nur ein Dislozierungsgebiet für Raketenabwehrsysteme jeder Seite zu beschränken. Unsere Position bleibt unverändert: jegliche Änderung der strategischen Situation darf nicht zur Untergrabung des Wesens dieses überaus wichtigen Dokumentes führen. Es darf und kann immer nur um die Stabilität des ABM-Regimes gehen ...

... und diesem Ziel dient auch das Memorandum zur gegenseitigen Raketenfrühwarnung?

So ist es. Damit wird die Gemeinsame Erklärung der Präsidenten Russlands und der USA über den Austausch von Informationen und zur Benachrichtigung über Raketenstarts vom 2. September 1998 mit Leben erfüllt. Nicht mehr und nicht weniger.

Wie soll dieser Informationsaustausch künftig konkret aussehen?

Wir denken an drei Etappen. Die Zeiträume für den Übergang von einer zur anderen erfolgen in Abhängigkeit von der Entwicklung der Gesamtsituation in der Welt - Amerikas NMD-Pläne eingeschlossen. In den ersten beiden Phasen werden nur Daten zu Raketenstarts Russlands und der USA ausgetauscht. Für die dritte Phase kommen auch Daten zu Raketenstarts anderer Staaten in Betracht, wenn die Flugbahn über russischem oder amerikanischem Territorium verläuft ...

Werden davon nicht die russischen Interessen gegenüber Drittstaaten erheblich berührt?

Die Möglichkeit des Informationsaustausches zu Raketenstarts dritter Länder ist eine Frage, die noch eingehend erörtert werden muss. Wir werden natürlich keinerlei Informationen weiterreichen, die einem unserer Partner schaden könnten. Außerdem sind wir bereit, mit unseren amerikanischen Kollegen die Frage der Erweiterung des Teilnehmerkreises des Memorandums zu beraten.

Nun hat Präsident Putin auch anderen Staaten vorgeschlagen, bei der Raketenabwehr doch mit Russland zusammenzuarbeiten. In welche Richtung soll sich das entwickeln?

Zunächst einmal möchte ich unterstreichen, dass diese Kooperation dem Erhalt der mit dem ABM-Vertrag fixierten Regeln nicht schaden darf. Davon ausgehend können wir uns eine derartige Zusammenarbeit etwa bei der nichtstrategischen Raketenabwehr vorstellen. Wir haben mit den Amerikanern eine Reihe klarer Kriterien formuliert, die es erlauben, derartige Systeme von anderen Systemen abzugrenzen. Selbst die US-Regierung schätzt bekanntlich ein, dass in nächster Zukunft eine Bedrohung vor allem von taktischen Raketen ausgehen könnte. Entscheidend ist, dass wir gemeinsam und koordiniert ein System der nichtstrategischen Raketenabwehr - vor allem in Europa - angehen.

Welche Kriterien sollen dafür gelten?

Wir brauchen dazu auf alle Fälle ein gesamteuropäisches multilaterales Zentrum zur Früherkennung von Raketenstarts; dazu kämen unbedingt gemeinsame Kommando- und Stabsübungen, aber auch eine koordinierte Forschung, die dann in ein System zur Abwehr nichtstrategischer Raketen münden kann. Denkbar erscheint auch der Aufbau nichtstrategischer Raketenabwehrformationen für koordinierte Aktionen zur Verteidigung der Zivilbevölkerung.

Damit bewegen Sie sich auf einem Terrain, das bisher noch völlig unerschlossen ist ...

Sie täuschen sich. Mit den Amerikanern verfügen wir bereits über einschlägige Erfahrungen. Seit 1996 finden Übungen der Kommandos und Stäbe zur taktischen Raketenabwehr mit dem Ziel statt, ein Prozedere zu erarbeiten, das die Abfolge gemeinsamer Kampfhandlungen von Luftabwehr- und Antiraketeneinheiten Russlands und der USA zum Schutz der Bevölkerung, aber auch von Objekten in Drittländern festlegt. Wir sind bereit, dieses Programm weiter auszubauen, neue Teilnehmer zu integrieren - besonders aus dem Kreis der europäischen Staaten. Allerdings erfordert das die Bereitschaft aller Beteiligten, auf die Zerstörung der jetzigen Stabilität zu verzichten. Wer neue Trennlinien zieht, wird genau das Gegenteil bewirken. Ich hoffe, auch in den USA wird in dieser Hinsicht der gesunde Menschenverstand wieder die Oberhand gewinnen.

Übersetzung aus dem Russischen: Katharina Stephan

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