"Der Schaden, den einige Priester den Jungen und den Verletzlichen angetan haben, erfüllt uns mit tiefer Traurigkeit und Scham." Mit diesen Worten hat Papst Johannes Paul II. während des Weltjugendtreffens in Toronto die Skandale um pädophile Priester in der katholischen Kirche bedacht. Er ging mit keinen Wort darauf ein, dass es der Vatikan war, der vor allem die Bischöfe in den USA jahrzehntelang darin bestärkte, Fälle von Kindesmissbrauch "intern" zu regeln.
Von heute an wird niemand, von dem wir wissen, dass er ein Kind sexuell missbraucht hat, weiter für die katholische Kirche Amerikas tätig sein. Wir Bischöfe entschuldigen uns bei den Opfern und für unsere tragisch langsame Reaktion auf den Horror sexuellen Missbrauchs." Als Bischof W
uchs." Als Bischof Wilton Gregory, der Präsident der US-Bischofskonferenz, mit dieser ungeschminkten Entschuldigung Ende Juni die Nationale Konferenz des amerikanischen Episkopats eröffnet, riskiert er im Namen seiner bedrängten Kirche noch keine Wende, aber doch einen sensationellen, historischen Doppel-Schritt: Zum einen verabschiedet er sich mit einem Mea Culpa von jeglicher Toleranz für hausgemachte Kinderschänder - zum anderen bricht er mit einer verschwörerischen, über Jahrzehnte praktizierten Verschwiegenheit. Der Druck an der Basis lässt keine andere Wahl. Pädophile Pfarrer haben die katholische Kirche der USA in die größte Krise ihrer Geschichte gestürzt. Bischof Gregory nimmt die im texanischen Dallas versammelten, ihrer Würde beraubten Eminenzen kräftig ins Gebet. Eine pünktlich zum Konferenzbeginn veröffentlichte Recherche der Dallas Morning News vertieft die Katastrophenstimmung: Die Zeitung gibt den Anteil der Bischöfe, die das Treiben pädophiler Pfarrer aktiv - das heißt durch Versetzung - oder passiv durch Wegsehen unterstützt hätten, mit 87 Prozent an. Parallel dazu wartet die Washington Post mit einer Langzeitstudie auf: Seit 2000 seien mehr als 500 pädophile Priester aus ihren Ämtern entfernt wurden, vier Bischöfe in Verbindung mit dem Skandal zurückgetreten. In 19 Bistümern liefen Gerichtsverfahren, bei denen die Kirche unter anderem der kriminellen Verschwörung angeklagt sei. Damit nicht genug, sehen sich die "Prinzen" der Kirche auch noch mit dem Vorwurf des Inzests konfrontiert. Die nach Dallas geladene Professorin für klinische Psychologie, Maria Frawley O´Dea, lässt in ihrem Vortrag über die verletzte Psyche eines sexuell missbrauchten Kindes keinen Zweifel an der Dimension der Verbrechen: "Das Verbot von Inzest ist ein Fundament unserer Kultur. Ein Priester, der sich an einem Kind oder einem Jugendlichen vergeht, macht sich ohne jeden Zweifel des Inzests schuldig. Es handelt sich um einen sexuellen Übergriff innerhalb der erweiterten Familie, in der ein Pfarrer die überragende Vaterfigur darstellt. Nur Gott steht über ihm. Sexuelles Vergehen von Priestern ist Inzest." Im Eiltempo verabschieden die schockierten Bischöfe eine Kinderschutz-Charta, die Eltern in Zukunft das Gefühl geben soll, sich nicht mehr sorgen zu müssen, wenn sie ihre Söhne und Töchter der Obhut eines Pfarrers anvertrauen. Aber: Kann nun dem Klerus wieder vertraut werden, jenem Personal der Kirche, das wegen seiner Verschwiegenheit dieser Tage auch mit der Mafia verglichen wird? Nach Monaten des Entsetzens hoffen die Optimisten unter Amerikas 63 Millionen Katholiken auf die Karthasis der Krise. Doch die Skeptiker im Kirchenvolk überwiegen und warnen vor großen Erwartungen: Der unsägliche Skandal um pädophile Priester und ihre bischöflichen Komplizen sei alles andere als neu. In der Tat stand die katholische Kirche schon vor 20 Jahren vor genau dem gleichen Problem. Auch damals gab es das Versprechen der Besserung - doch alles wurde mit der Zeit unter den Teppich gekehrt. Seinerzeit perlte jede Warnung vor dem drohenden Skandal an der obsessiven, von Rom befohlenen und überwachten Verschwiegenheit ab. Niemand sprach von den Opfern, Mitgefühl für sie und ihre Familien stand nicht zur Debatte. Tatsächlich bricht die Kirche ihr Schweigen erst, als sie es Mitte der achtziger Jahre mit der typisch amerikanischen Spezies der Whistleblower zu tun bekommt - couragierten Einzelkämpfern, die als Frühwarnsystem fungieren und als erste die Stimme erheben, wenn eine Katastrophe droht. In diesem Fall sind es mit dem Mut der Verzweiflung agierende Männer und Frauen, die versuchen, die Aufmerksamkeit von Kirche und Öffentlichkeit auf das kriminelle Treiben von Pfarrern zu lenken. Ohne die bahnbrechende Vorarbeit der Whistleblower Barbara Blaine, Ray Mouton, Father Doyle, Eugene Kennedy oder Carl Cannon hätte die Kirche an ihrer Strategie des Verschweigens und Vertuschens wahrscheinlich festgehalten. Insofern lohnt sich ein näherer Blick auf diese selten gewürdigten Helden inmitten eines Desasters, dessen Tragweite den Rahmen eines bloßen Sex-Skandals längst gesprengt hat. Denn der Vertrauensbruch zwischen Klerus und Kirchenvolk wird in Amerika von seiner Wirkung her inzwischen mit dem Abfall Martin Luthers und der Reformation verglichen. Als sich 1984/85 die ersten Whistleblower hervorwagen, kommen sie aus den Reihen der Opfer. Ihnen zur Seite stehen bald engagierte Anwälte, die das damals höchst unpopuläre und im Gegensatz zu heute wenig lukrative Tabu-Thema anpacken. Barbara Blaine, eine Sozialarbeiterin aus Chicago, ist die erste Frau, die mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit tritt. Blaine, heute 46, sucht 1985 Hilfe bei ihrer Kirche.: "Ich selber wurde als Kind und als Teenager in Toledo, Ohio, missbraucht. Als ich 29 Jahre alt war, wandte ich mich an die Kirche und bat um Hilfe. Ich rechnete damit, dass sie den Priester seines Amtes entheben würden. Aber niemand zeigte Mitgefühl. Es kam ihnen nur drauf an, dass dem Pfarrer nichts passierte. Es war schmerzlich, erkennen zu müssen, dass die Kirche nur an sich dachte. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach anderen Opfern in der Hoffnung, einander helfen zu können, und gründete die Organisation SNAP." Die survivors of those abused by priests - übersetzt: Überlebende sexuellen Missbrauchs durch Priester - haben keine Mühe, Mitglieder zu finden. Bald wird aus einer Handvoll lokaler Gruppen ein nationales Netzwerk, das im Schatten jeder Bischofskonferenz auftaucht, doch wird dort die SNAP entweder ignoriert oder als lästiger Störenfried abgetan. Auch der Anwalt Ray Mouton schweigt nicht, er fällt 1985 in Ungnade, weil er der Co-Autor eines zwar von der Kirche bestellten, dann aber als "überzogen" gewerteten und in der Folge geächteten Reports zum Thema Pädophile Pfarrer ist. Darin heißt es geradezu prophetisch, das Problem grassiere landesweit, auf die Kirche kämen Wiedergutmachungen in Millionenhöhe zu. Der aus dem Süden Louisianas stammende Mouton verdankt seine Erkenntnisse den Erfahrungen, die er 1983 macht, als ihn die Diözese Lafayette bittet, die Verteidigung von Father Gilbert Gauthe zu übernehmen: "Gauthe war der erste pädophile Pfarrer, der in den USA vor Gericht stand. Er hatte Chorknaben-Proben jeweils auf den frühen Morgen gelegt und den Eltern gesagt, dass sie sich den langen Weg von der Farm zur Kirche sparen und ihre Söhne bei ihm übernachten könnten. Dann veranstaltete er diese Pyjama-Partys - mit vier oder fünf Kindern. Mehrmals pro Woche." Father Gilbert Gauthe steht 1984 vor Gericht: sexueller Missbrauch von Kindern in 34 Fällen, lautet die Anklage. Dass es jemanden wie Gauthe geben könnte, hat Anwalt Ray Mouton nie für möglich gehalten. Er sei damals ein gläubiger, aufrechter Katholik gewesen, erinnert er sich. "Meine Familie war erzkatholisch und stiftete das Grundstück für die Kathedrale von Lafayette ..." Moutons Verbundenheit mit der Kirche lässt nach, als ihm klar wird, dass die Vorgesetzten des Priesters bereits seit zehn Jahren über seine Veranlagung Bescheid wissen. Als der zuständige Bischof von den Sexualdelikten erfährt, befiehlt er Gauthe, seine "Sünden zu beichten", um dann nie mehr darauf zurück zu gekommen. Mouton: "Anfangs hielt ich den Priester für ein verirrtes, vom Weg abgekommenes Individuum. Ein Jahr später glaubte ich, dass es einen Kult pädophiler Priester innerhalb der Kirche gäbe, und heute bin ich davon überzeugt, dass in diesem Land eine solche klerikale Lebensweise wie eine Kultur gepflegt wird." - Gilbert Gauthe wird 1985 zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einem Jahrzehnt entlässt man ihn wegen guter Führung. Wenig später vergeht er sich an einem Dreijährigen. Die Strafe, sieben Jahre Gefängnis, sitzt er heute noch ab. Noch immer behauptet Rom, von nichts gewusst zu haben. Wahr ist, dass der Vatikan vor 17 Jahren den außergewöhnlichen Schritt unternimmt, Bischof A. J. Quinn aus Cleveland nach Louisiana zu schicken, um den Fall des Priesters Gauthe vor Ort zu untersuchen. Quinn ist der Empfänger des Reports, den Anwalt Mouton und der Kirchenrechtler Tom Doyle im Auftrag der Kirche verfasst haben und in dem davor gewarnt wird, dass sich Fälle pädophiler Priester landweit häufen. Der Report soll der Bischofskonferenz vorgelegt werden, doch soweit ist es wahrscheinlich nie gekommen, vermutet Tom Doyle: "1985 kündigten die Bischöfe auf einer Pressekonferenz eine Untersuchungskommission an. Ich fragte einen meiner Kontaktleute in der Kirchenhierarchie, wer in diese Kommission berufen worden sei. Er sagte, es gäbe keine - die täten nur so als ob." Eugene Kennedy, Professor für klinische Psychologie an der Loyola-Universität in Chicago, ist bei den Bischöfen auf ähnliche Passivität gestoßen. Der frühere Dominikanerpater leitet schon Anfang der siebziger Jahre im Auftrag der Kirche ein Forschungsteam, das eine psychologische Studie über Priester in mehreren US-Bundesstaaten vorlegt - die umfangreichste Erhebung, die es je gab. Ihre Schlussfolgerung: Zwei Drittel der 271 Befragten müssten als "emotional unterentwickelt" eingestuft werden. Für diese jungen Priester sei typisch, dass sie die Herausforderungen der Adoleszenz nicht bestanden hätten und auf vorpubertärer Ebene verharrten. Das bedeute, dass sie zwar gleichgeschlechtliche Freundschaften schließen, aber darüber hinaus keine Beziehungen zum anderen Geschlecht entwickeln könnten. Sie seien schlecht vorbereitet auf das Zölibat und anfällig für Zusammenbrüche. Diese Studie hätte - wäre sie beachtet worden - vermutlich großen Schaden abwenden können, doch wird sie stillschweigend ad acta gelegt. Da gelingt es Mitte 1985 den Journalisten Thomas Fox und Jason Berry vom National Catholic Reporter das Tabu-Thema als Titelgeschichte zu bringen. Allerdings hält es die Chefredaktion des kirchenunabhängigen Blattes für ratsam, die Leser durch einen vorangestellten Kommentar auf die Enthüllungen vorzubereiten, in dem immerhin steht: "Landesweit ist die Kirche mit Skandalen konfrontiert und sieht sich gezwungen zig Millionen Dollar an Familien zu zahlen, deren Söhne von katholischen Pfarrern sexuell belästigt worden sind". Tief im Inneren der Zeitung dürfen Fox und Berry dann schreiben, die Kirchenführung wisse nicht, wie sie das Problem angehen solle, zu oft würden schuldig gewordene Pfarrer in Schutz genommen. Die Leser des National Catholic Reporter reagieren mit einem Schrei der Empörung: "Ihr zerstört die Kirche!" werden die Reporter beschimpft. Erst ein Jahr später, als Jason Berrys Buch Führe uns nicht in Versuchung. Katholische Pfarrer und sexueller Missbrauch von Kindern für den Pulitzer Preis nominiert wird, hören die "Nestbeschmutzer"-Rufe auf, die auch deshalb so hysterisch klingen, weil die nationale Presse ansonsten das Themas nur zögerlich aufgreift. Karl Cannon, Präsident der White House Correspondents Association, der 1987 als einer der ersten für die San José Mercury News eine preisgekrönte Serie über den Kirchenskandal schreibt, erinnert sich: "Vor 20 Jahren hatten die Medien Schwierigkeiten, Stories zum Thema Vergewaltigung von Chorknaben zu bringen. Heute ist das anders, weil vor allem die Opfer inzwischen eine andere Haltung haben. Früher glaubten die meisten von ihnen noch, die Kirche werde sich des Problems schon annehmen ..." Die jüngsten Offenbarungen sind nicht mehr irgendwo in kleinen Provinzblättern erschienen, sondern im einflussreichen Boston Globe und damit im katholischen Kernland der USA. Außerdem wagt sich die US-Presse heute völlig unbeeindruckt an das Thema Sex. Das verkaufe sich so gut wie nie, was wohl mit der Post-Lewinsky-Ära nach der Affäre um die Clinton-Praktikantin im Weißen Haus zu tun habe, glaubt Cannon. "In der Post-Monika-Welt sind Journalisten bereit, über sexuelle Themen - egal wie geschmacklos - zu berichten. Das gehört heute zum Alltagsgeschäft. Ich sehe darin einen gesellschaftlichen Wandel, der schließlich auch das Thema Pädophilie und Kirche auf die Seite eins gebracht hat - wo es hingehört." Wann werden die Bischöfe zur Rechenschaft gezogen? Sollen sie bestraft werden? Von wem? Was will die Kirche tun, um sich mit den Opfern zu versöhnen? Und: Was wird Rom sagen, wenn sie sich dazu entschließt? Dort wird trotz gegenteiliger Beweise die Illusion genährt, es handele sich um ein spezifisch amerikanisches, medial übertriebenes "Problem". Werden die amerikanischen Bischöfe vor Rom nun weiter zu Kreuze kriechen? Oder wird es von Amerika ausgehende Reformen geben, die an Luthers Reformation erinnern und eine neue Ära einläuten könnten: das Ende der mittelalterlichen Verschwiegenheit? Mit weniger werden Amerikas Katholiken diesmal nicht zufrieden sein.
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