Nach den Riots in zahlreichen englischen Städten im vergangenen Sommer sprach Premierminister David Cameron von einer „in Teilen kranken Gesellschaft“. Als „Abschaum“ bezeichnete Nicolas Sarkozy die Jugendlichen in den französischen Banlieues nach den Ausschreitungen im Jahr 2005. In ihrer Wortwahl haben die beiden eines gemeinsam: Sie schließen die Aufgebrachten aus der Gesellschaft der politisch verantwortlichen Bürger aus; Cameron mit der Sprache des Sozial-hygienisch-medizinischen, Sarkozy mit Worten der Verachtung und Stigmatisierung. Vom Pöbel ist auch die Rede. Dessen Taten werden als unpolitisch definiert und bleiben so für die Mehrheit völlig unverständlich. Aber wie lassen sich derartige Vorgänge denn angemessen
sen begreifen? Was treibt ihre Akteure an? Klar ist: Sie stehen aufgrund ihrer Taten und der über sie gefällten Urteile außerhalb der Gesellschaft. Aber wie lässt sich die ihnen zugrunde liegende soziale und kulturelle Verfasstung in philosophische Begriffe fassen? Genau das versucht der französische Philosoph Alain Brossat in Plebs Invicta. Einem Band mit vier kurzen, pointierten Essays, gerade erschienen in dem noch jungen und an der Schnittstelle von Politik, Kunst und Theorie angesiedeltem August Verlag.Es gibt keine Plebs„Die Plebs existiert zweifellos nicht, aber es gibt etwas Plebejisches“, sagte Michel Foucault in einem Interview 1977. Auf Foucault bezieht sich Alain Brossat, wie in zahlreichen seiner Arbeiten, so auch in Plebs Invicta. Ausgangspunkt ist Foucaults Untersuchung des Falles Pierre Riviere, einem Elternmörder aus dem 19. Jahrhundert. Während er sich mit Rivieres Akte wissenschaftlich auseinandergesetzt, so Brossat, dringt plötzlich das Plebejische in die Arbeit und das Leben von Foucault. Durch diese Begegnung wird der Intellektuelle in ein „geheimnisvolles Außen mitgerissen“ und organisiert „Fluchtlinien der Philosophie“ aus der grauen Wissenschaft hinaus.Für Foucault ist die Plebs oder das Plebjische die Rückseite der Macht. Es glingt ihr immer wieder, Herrschaft und polizeiliche Logik außer Kraft zu setzen. So erzeugt sie Unterbrechungen, Verschiebungen und Verunsicherungen. Umgekehrt fungiert die Plebs aber auch als eine Strategie staatlicher Herrschaft. Das Plebejische vermag es, die Logik der Polizei und ihres Sicherheitsapparats zu rechtfertigen. Dem guten, integrierten Arbeiter kann stets der schlechte – zum Beispiel der Schwarzarbeiter – als mahnendes Beispiel gegenübergestellt werden. Gleichzeitig eröffnet die Plebs den Zugang zu einer anderen Geschichte, zu einer Gegenerzählung der Gegenwart. Nur muss die hörbar gemacht werden. Und genau das ist es, was Pierre Riviere tat, als er im Gefängnis seine Memoiren schrieb. Sie sind das Herzstück der Fallakte, mit der sich Foucault beschäftigte. Riviere setzte seine Erzählung den Akten des Gerichts und der Psychiatrie entgegen und enthüllte so die Rückseite der Geschichte: das, was sonst nicht sichtbar ist. Erst durch ein Aufbrechen der Ordnung, durch Gewalt bahnt es sich einen Weg in die Öffentlichkeit.So wird die Plebs laut Brossat zum Akteur einer Umstrukturierung des politischen Verständnisses. Sie katapultiert sich von einem Moment auf den anderen in den Mittelpunkt. Hinterher verschwindet sie wieder, wird ebenso „unsichtbar“ wie zuvor – so auch nach den Aufständen in den französischen Banlieues 2005.Nichts ErhabenesBrossat unterscheidet deutlich das Volk von der Plebs. Das Volk besitzt seine Erinnerungen und Traditionen, die Plebs verfügt über nichts dergleichen. Sie ist der stets ausgeschlossene und namenlose Teil der Bevölkerung. Als Beispiel führt Brossat zwei Demonstrationen vom Beginn der 60er Jahre an. Als am 17. Oktober 1961 Tausende Algerier gegen eine Ausgangssperre in Paris auf die Straße gingen, tötete die Polizei mehr als 200 von ihnen. Die Namen der Opfer sind bis heute nicht bekannt. Vier Monate später kamen bei einer Gewerkschaftsdemonstration in Charonne neun Menschen ums Leben. Über sie wird noch heute namentlich gesprochen. Sie sind fester Bestandteil einer Erinnerungskultur, die in einem gesamtgesellschaftlichen Geschehen verankert ist. Der Plebs bleibt eine solche Erinnerung stets verwehrt. Im Fall der Banlieue-Aufstände und der englischen Riots dürften es lediglich Graffitis, Tags und subkulturelle Liedtexte sein, die in einem marginalisierten Segment der Gesellschaft eine Rolle spielen.Das Aufbrechen der Gewalt hat für Brossat aber nichts Erhabenes. Zwar sieht er in der Plebs und ihrem anarchischen Aufbegehren eine „gegenläufige, befreite Energie“, die sich einem verkrusteten Parlamentarismus entgegenstellt, einer Politik, die mit steigenden Sicherheitsstandards auch immer mehr demokratische Freiheiten abbaut. Trotzdem geht es ihm keinesfalls darum, Krawalle und Zerstörungen zu verklären. Im Gegenteil: Das plötzliche Hervorbrechen der Gewalt bewertet er als hässlich und grotesk, nicht als egalitär oder emanzipatorisch. Die Gewalt ist rachsüchtig und apokalyptisch, die Täter empfinden sie meist als erlösend. Das verdeutlicht laut Brossat vor allem die Abwesenheit eines politischen Volkes. Denn heute erleben wir einen Epochenwechsel: große nationalstaatliche Konflikte brechen weg, klare Trennlinien sozialer Kämpfe, die sich in großen gesellschaftlichen Blöcken organisieren, lösen sich auf. Stattdessen kommt es zu einer Vielzahl heterogener Zusammenstöße von unterschiedlichen sozialen und politischen Akteuren.9/11, ein Akt der Plebs?Brossat geht in seiner Abstraktion noch einen Schritt weiter. Er erklärt die Anschläge vom 11. Spetember zu einem radikalen Ausdruck des Plebejischen. Die Plebs ist hier nicht als Akteur oder Gruppe zu verstehen, sondern als Handlungs- und Wirkungsprinzip. Die entgrenzte, auf reine Schockwirkung zielende Gewalt bringt die völlige Sprachlosigkeit, aber auch das Apokalyptisch-Rachsüchtige am extremsten zum Ausdruck. So stimmig sich dies stellenweise in Brossats Argumentation anhört – der Anschlag auf das World Trade Center hat sehr wohl politische und identitäre Diskurse eines Islamismus erzeugt oder fortgeschrieben. Und das ist genau das Gegenteil einer inhaltsleeren reinen plebejischen Gewaltgeste. Das lässt Alian Brossat unberücksichtigt. Nichts desto trotz ist seine abschließende Feststellung richtig: Die Rückkehr der Gewalt in unsere, mit hohen Sicherheitsstandards ausgestatteten Metropolen ist die Kehrseite einer Verwahrlosung von Bevölkerungen, die auf der falschen Seite der globalen Biopolitik leben und ausgeschlossen werden.