Die Debatte über die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist fast so alt wie die Bundesrepublik selbst. Und doch hat man diese Frage jahrzehntelang immer gleich beantwortet. Auf fast jeden Haushaltsengpass, jede Rezession und jede Finanz- oder Staatskrise wurde mit der Aufnahme neuer Schulden reagiert. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Die Bundesrepublik Deutschland stand zum Jahresende 2011 mit dem sagenhaften Betrag von 2,03 Billionen Euro bei seinen Gläubigern in der Kreide. „Über unsere Verhältnisse“ hätten wir gelebt, heißt es nun. Um von dem immensen Schuldenberg herunterzukommen, helfe nur ein strikter Sparzwang. Gelingen soll dies mithilfe einer verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse – die Deutschland mit dem Fiskalpakt nun auch in ganz Europa durchgesetzt hat.
Wenn sparen nur so einfach wäre. Die meisten seriösen Prognosen sagen vorher, dass besonders bei Gesundheit und Pflege, aber auch im Schulwesen, der Jugendarbeit und Alterssicherung in den kommenden Jahren immense Mehrausgaben nötig sein werden, will man auch nur halbwegs den aktuellen Standard halten. Von einer Verbesserung der Situation – zum Beispiel in der Pflege – ganz zu schweigen. Steigende Ausgaben bei sinkenden Einnahmen zu begleichen, das klingt nach der berühmten Quadratur des Kreises. Dabei soll nicht geleugnet werden, dass es noch Einsparungspotenziale in unserem Sozialsystem gibt. Sparen, so richtig es auch grundsätzlich sein mag, kann aber nur die halbe Wahrheit sein.
Andere Einnahmequellen
Wer Neuverschuldung verhindern will, muss auch den Mut haben, nach anderen Einnahmequellen zu suchen. Wer glaubt, er könne der öffentlichen Verschuldung lediglich durch eine restriktivere Ausgabenpolitik begegnen oder gar vermeintliche Effizienzreserven ausbeuten, der nimmt in Kauf, dass das ohnehin schon fragile und erodierte Sozialgefüge unserer Gesellschaft endgültig zerbricht.
Handelt es sich also um eine ausweglose Situation? Ist die Merkelsche Austeritätspolitik der Schuldenbremse „alternativlos“? Mitnichten. Den Kassandrarufen derjenigen zum Trotz, die den Haushalt mittels Kahlschlag sanieren wollen, gibt es nämlich auch gute Nachrichten. Stellt man dem Verschuldungsbetrag das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland gegenüber, so relativiert sich die Summe beträchtlich. Laut Berechnungen der Bundesbank betrug das Geldvermögen der Deutschen im Jahre 2011 rund 4,7 Billionen Euro. Interessant dabei ist, dass diese Zahl deutlich schneller wächst, als die öffentliche Verschuldung. Selbst der kurze Rückgang des privaten Geldvermögens während der Finanzkrise 2008 ist längst überwunden.
Ans Sparen nicht zu denken
Privates Geldvermögen mag im Einzelfall sehr angenehm sein. Das Problem ist, dass es ungeheuer ungleich innerhalb der Gesellschaft verteilt ist. Teilt man die Gesellschaft in zehn Einkommensklassen ein, in sogenannte Dezile, so zeigt sich, dass allein die obersten zehn Prozent im Jahr 2007 über 61 Prozent des Vermögens unter sich aufteilten. Das unterste Zehntel, zum Vergleich, hat sogar im Schnitt rund 1.000 Euro Schulden.
Besonders die Tendenz ist besorgniserregend. Blickt man auf den Vergleich zwischen den Jahren 2002 und 2007, so zeigt sich eine immer ausgeprägtere Konzentration des Vermögens auf die einkommensstarken Bevölkerungsschichten. Während fast alle Einkommensdezile von 2002 bis 2007 relativ an Reichtum abgeben mussten, konnten die reichsten zehn Prozent ihre Vermögensposition noch deutlich ausbauen.
Ein solches Ungleichgewicht in der Vermögensverteilung hat komplexe und langfristig entstandene Ursachen. Zum einen sind die Löhne und Gehälter dafür ausschlaggebend. In einer Studie der International Labour Organization, die die Entwicklung der Löhne und Gehälter von 2000 bis 2009 im internationalen Vergleich darstellt, steht Deutschland weit abgeschlagen an letzter Stelle. Durch Nullrunden und Zurückhaltung bei der Lohnentwicklung konnten in der Bundesrepublik äußerst konkurrenzfähige Waren für den Export produziert werden. Doch hat die Lohnzurückhaltung auch einen unmittelbaren Effekt auf die Vermögensverteilung: Sie dämpft die Vermögensbildung bei kleinen und mittleren Einkommen. Im Ergebnis wächst das Vermögen der ohnehin schon Wohlhabenden weiter. Bei den unteren Einkommensschichten, die mit immer weniger Bruttogehalt auskommen müssen, ist ans Sparen nicht mehr zu denken.
335 Milliarden Euro zu wenig Steuern
Die andere Seite der Medaille ist die Einnahmenpolitik. Wenn zu wenig Geld in der Kasse ist, hat dies womöglich auch mit einer verfehlten Steuerpolitik zu tun. In einer Simulationsanalyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung wurde berechnet, welches Steueraufkommen wir in Deutschland hätten, wenn noch die Steuergesetze des Jahres 1998 gelten würden. Demnach wären allein im Jahr 2010 über 50 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen in der Staatskasse. Zusammen kumulieren die Gesamtsteuerausfälle auf eine Summe von über 335 Milliarden Euro seit dem Jahr 2000. Das Ungleichgewicht im Staatshaushalt ist also hausgemacht.
Der dritte Faktor in dieser Debatte bezieht sich auf eine Mentalitätsfrage, sprich darauf, wie in der Vergangenheit bereits mit ähnlichen Krisen umgegangen wurde. Dazu lohnt sich ein Blick auf den Verlauf der Staatsschuldenquote, also dem Verhältnis der Staatsschulden zur Wirtschaftskraft. Deutschland hatte zu Beginn der siebziger Jahren noch eine relativ harmlose Verschuldungsquote von nicht mal 20 Prozent. In der Folgezeit ist die Staatsschuldenquote kontinuierlich gestiegen und hat besonders in Krisenzeiten deutlich zugenommen. Einen großen Sprung machte die Staatsschuldenkrise dann Anfang der neunziger Jahre durch die Wiedervereinigung. Die Deutsche Einheit wurde praktisch komplett durch die Plünderung der Sozialversicherungen und auf Pump finanziert. Der letzte und massivste Anstieg der Staatsschuldenquote ergab sich durch die Bankenkrise und die damit verbunden Konjunkturstimulationsversuche und Bankenrettungspläne.
Wir haben nie geteilt
Die stetig steigende Entwicklung der Staatsschuldenquote sagt im Grunde zweierlei aus: Erstens wurden Wirtschafts- und Haushaltskrisen in der Bundesrepublik immer bekämpft, indem man sich auf dem internationalen Markt Geld geliehen hat. Und zweitens stellt sich die Erkenntnis ein, dass, egal welche Herausforderung unserer Gesellschaft in den letzten 40 Jahren bevorstand – und seien es historisch einmalige Ereignisse wie die Wiedervereinigung –, sie nie dazu geführt haben, dass wir unseren Wohlstand geteilt haben.
Wenn in Deutschland vom Teilen gesprochen wurde, bedeutete das immer, dass die Zugewinne aufgeteilt wurden. Aber es wurde nie ernsthaft gewagt, die Substanz, sprich das unmittelbar vorhandene Vermögen anzutasten. Solidarität hat in unserem Land also bisher nur wenig mit abgeben oder gar teilen zu tun. Eine Unterstützung der Schwachen durch die Starken, eine Solidarität also, die ihren Namen verdient und nicht zur Phrase verkommt, wird in unserem Land seit langem schon nicht mehr eingefordert.
Flurschäden im Sozialgefüge
Vor dem Hintergrund des inzwischen ernsthaften Schuldenbergs in unserem Land, und der Feststellung, dass man allein durch Zurückhaltung der Ausgaben diesen nicht überwinden wird, ohne bleibende Flurschäden im Sozialgefüge unserer Gesellschaft zu hinterlassen, müssen wir uns mit Alternativen befassen. Maßgeblich dafür ist, dass man sich in Deutschland wieder eine volkswirtschaftliche Gretchenfrage stellen muss: Nun sag, wie hältst du es mit dem Vermögen? Für eine Steigerung der Einnahmen kommen hier zu allererst die Erbschaftssteuer in Frage, die letztlich anstrengungslosen Wohlstand bietet, und die Vermögenssteuer, deren Erhebung seit Jahren mit fadenscheinigen Argumenten verschleppt wird.
Der Großteil unserer Gesellschaft würde durch Kürzungen bei den sozialen Sicherungssystemen, der öffentlichen Infrastruktur und der allgemeinen Versorgung zu leiden haben, die die Einführung der Schuldenbremse mit sich bringt. Kompensieren können solche Einschnitte nur diejenigen, die genug Vermögen haben, um auf die öffentliche Infrastruktur in weiten Teilen nicht angewiesen zu sein. Also der geringe Prozentsatz unserer Mitbürger, der seine Kinder nicht ins städtische Schwimmbad schicken muss, weder auf staatliche Schulen noch auf allgemeine Gesundheitsversorgung angewiesen ist, und sich Kunst lieber ins eigene Wohnzimmer hängt, statt sie sich im Museum anzuschauen. Der ganz große Rest wird das grundgesetzlich verankerte Spargebot und den daraus resultierenden Verteilungskampf am eigenen Leibe miterleben.
Daher muss das Plädoyer lauten, sich entweder wieder stärker für Umverteilung in unserer Gesellschaft einzusetzen oder sehenden Auges die soziale Spaltung zuzulassen. Vor allem aber braucht man Mittel, wieder mehr gesellschaftliche Vermögensgerechtigkeit zu schaffen. Die Oppositionsparteien haben sich in der Vergangenheit schon mehr oder weniger vehement für Umverteilung eingesetzt. Daran werden sie sich im Falle eines Wahlsieges messen lassen müssen.
Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Christian Woltering ist Verbandsreferent
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.