Jeden Tag stehen sie da am Bahnhof. Ein buntes Völkchen. Alte, Junge, Deutsche, Ausländer, manche verwahrlost, andere zurecht gemacht, die Mehrzahl unauffällig, Durchschnitt.
Meistens stehen sie dicht gedrängt in Gruppen, nur ein paar Einzelgänger halten Abstand vom großen Haufen. Bei schönem Wetter sind es deutlich mehr als bei Regen und Sturm. Im Winter tauchen viele von ihnen wochenlang überhaupt nicht auf. Doch sobald es wieder wärmer wird, spätestens im April, Mai kommen sie zurück. Nicht alle haben Nässe, Schnee und Kälte gut verkraftet, sind sichtbar gealtert. Umso mehr stechen die Neuen heraus, die sich jetzt hinzugesellen. Zunächst werden sie von den Alteingesessenen misstrauisch beäugt, bleiben eher für sich, doch schon nach einigen Wochen gehören sie ganz selbstverständlich dazu, fallen auch dem aufmerksamen Beobachter nicht mehr auf.
Die Passanten schenken ihnen sowieso keine Beachtung, hasten starren Blickes an den Müßiggängern vorbei, müssen den nächsten Zug erwischen oder holen sich Brötchen und Zeitung zum Frühstück. Ich bleibe manchmal kurz stehen und überlege, ob ich hinübergehen soll. Einige sehen so aus, als hätten sie abenteuerliche Geschichten erlebt, zum Beispiel die schwer Bepackten, die offensichtlich auf der Durchreise und vielleicht nur für wenige Tage in der Stadt bleiben. Oder was würden jene erzählen, die rund um die Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz anzutreffen sind? Vielleicht von besseren Zeiten, als sie nicht im Traum daran gedacht hätten, dass sie einmal an diesem zugigen, verstaubten Ort auf der Strecke bleiben würden. Und davon, wie es war, als sie noch gebraucht wurden, weil sie jung waren und funktionierten wie alle anderen. Und wie es zum Absturz kam, wie sie verlassen wurden, wie sie es eines Tages einfach nicht mehr schafften, wie ihnen die Luft ausging.
Auf ihren Runden nehmen die Polizeistreifen sie immer wieder ins Visier, fahren ein, zwei Mal im Schritttempo vorbei, steigen aus, gehen langsam auf sie zu, kontrollieren stichprobenartig. Nur manchmal greifen sie gezielt zu und nehmen gleich mehrere mit, meistens die Vergammelten, hin und wieder ein paar von den Neuen. Dann kommt Bewegung in die Gruppe, fast scheint es, als rückten alle näher zusammen und kehrten der feindseligen Welt den Rücken.
Trotzdem kann ich unbehelligt mein eigenes Fahrrad aus dem Pulk herausholen. Alle wissen, dass ich es gut behandele und dass es morgen wieder mitten unter ihnen an seinem Platz stehen wird.
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