Wie erklärt man Kindern die Gentrifizierung – oder soll man es lassen?
Kinder Sollten Eltern früh erklären, warum man nicht „Indianer“ sagt? Oder stürmt ohnehin schon zu viel Politik auf unsere Kinder ein? Eine Kontroverse
Wie bitte?! Auf die Frage, ob man Kinder „politisieren“ solle, reagieren Eltern aus dem sogenannten „juste milieu“ meist empört. Natürlich „politisieren“ wir Kinder nicht – zumindest nicht so, wie ihr meint! Nicht in dem Sinn! Wir sind doch nicht – igitt – ideologisch oder gar AfD! Wie sehr Mütter und Väter jedoch mit ihren „Werten“, Projektionen und Ängsten äußerst eifrig die Kleinen zu missionieren versuchen, fällt ihnen selbst oft gar nicht auf. Aber all das ist auch „Politisierung“. Nur eben subtiler. Und zahm.
Ich selbst habe mich erst mit dem Waldsterben knallhart politisiert. Von allein. Mit etwa 13. Gegen meinen Vater. Die Opposition zu ihm war wichtig. Weil: S
ar wichtig. Weil: Sonst ist es doch albern. Weil: Ich bin doch auch für die Legalisierung von Cannabis, zum Beispiel. Wenn, dann würde ich die Kinder – klaro – in Richtung linksliberal politisieren. Aber wozu? Irgendwie politisieren die sich doch von selbst. Freunde, Tiktok und Youtube sind dafür bestens geeignet. Weil hier niemand in einer Mission unterwegs ist.Ich weiß, dass sie in meiner Abwesenheit derb daherreden, absolut politisch unkorrekt, diskriminierend. „Normal“, rückt mein Sohn mit der Sprache raus, dass er den Freund mit „Hurensohn“ begrüßt. „Hure ist doch ein ordentlicher Beruf. Und wieso sollte eine Hure keinen Sohn haben?“ Ein Vater bestätigt, „Fotze“ sagen sei doch kein Problem. Viel bedenklicher ist doch, dass einzelne Mitschüler:innen in seiner Klasse beauftragt wurden, Schimpfworte zu notieren, inklusive Namen. Gespitzelt wurde sogar auf dem Schulhof. „Zero Tolerance“ gegenüber Rassismus und Diskriminierung, so lautet das Credo der Schule. Aber Mitschüler zu denunzieren war offenbar voll okay. Sogar für viele Eltern. DAS finde ich beunruhigend. Und motiviere meinen Sohn, das System hinter der Fassade zu erkennen.Politische Dauerberieselung kann schief gehenDie Institution Schule politisiert Kinder ständig, wenn sie gesellschaftspolitische Themen wie Ökologie, soziale Ungleichheit, Rassismus im Unterricht mitverhandelt. Okay, aber die Schule übererfüllt diesen erzieherischen Auftrag zuweilen. Wissensvermittlung? Fällt öfter hinten runter. Und damit das Diskursbesteck, das den Austausch von Argumenten überhaupt erst ermöglicht, die über streberhafte Reflexe wie „Herr Lehrer, Herr Lehrer, das ist frauenfeindlich!“ hinausgehen.Im Wahlpflichtfach sitzt der Große mit lauter „NPC-Mädchen“ herum. Mit wem?!? „NPC-Mädchen schauen nicht nach rechts oder links. Die sagen nie was. Die haben keinen Humor. Die wollen nur gute Noten.“ Konformist:innen also. Die – böse gesagt – vor Corona mit den Eltern auf jeder Fridays-for-Future-Demo mitspaziert sind, stelle ich mir vor. Jetzt kennt er das Wort für diese Super-Langweiler-NPC-Mädchen.Politisch wertvolle Dauerberieselung kann schiefgehen. Mein Sohn war an seinem Gymnasium letztes Jahr in eine Hitlergruß-Affäre verwickelt. Die Schule machte – Pardon – kurzen Prozess: quasi Kreuzverhöre zur Identifizierung des Anstifters, Storno der Klassenreise, Alarmierung der Polizei. Beim „Anstifter“ handelte es sich ausgerechnet um einen Jungen mit großen familiären Problemen. Die Schule kannte keine Gnade. Kriminalisierte dieses Kind. Ich sah meine Aufgabe hier so: statt antifaschistischer Standpauke besorgte Nachfrage, wie es dem Jungen geht.Es braucht ein Korrektiv zu dieser Dauerpolitisierung der Kinder durch die Schule. Dieses Korrektiv liegt in der Familie. Eltern mit ach so „klaren Überzeugungen“ halte ich für gefährlich. Während der Pandemie war zu beobachten, wie viele die rabiate Zero-Covid-Politik à la China befürworteten. Erschreckend die generalstabsmäßige Durchführung der Quarantäne, wenn das eigene Kind sein Zimmer nicht verlassen durfte, Essen vor die Tür gestellt kriegte. Totalitär erschreckend. Besser, man passt auf, dass nicht noch Rechte am Abendbrottisch die Sache mit der Demokratie und der Freiheit besser erklären. Katharina SchmitzPROJa, wir „politisieren“ unsere Kinder. Wir sprechen mit ihnen über politische Zusammenhänge und Inhalte, die viele Leute für das Alter unserer Töchter – fünf und acht Jahre – als nicht kindgerecht empfinden. Deshalb bemühen wir uns, dabei verständlich zu sein. Wir erklären ihnen etwa, dass ihre Freundin aus der Nachbarschaft, die gerade einen Bruder bekommen hat, vielleicht nicht im Kiez wird bleiben können, weil sich die Eltern eine größere Wohnung suchen müssen und nichts Bezahlbares finden. Wir wollen ihnen in einer für sie verständlichen Sprache vermitteln, dass in unserem Alltag und unserem unmittelbaren Umfeld soziale Verdrängung stattfindet und wir das nicht gut finden – aber dagegen kämpfen können, ob in der Nachbarschaftsinitiative oder auf einer Demo.Es ist wichtig, Kindern früh zu vermitteln, dass Menschen Handlungs- und Gestaltungsmacht entwickeln können und keine passiven Opfer sind. Und die Welt ist eben politisch. Würden wir die Kinder in dem Glauben lassen, die Eltern der besagten Freundin hätten halt Pech bei der Wohnungssuche, würden wir diese Frage entpolitisieren. Wir erklären den Kindern auch, dass wir solidarisch sein müssen mit geflüchteten Menschen aus der Ukraine – zwei wohnen gerade in der Wohnung einer Freundin unserer älteren Tochter –, aber auch aus anderen Ländern. Die Kinder sollen erfahren, dass rassistische Ausgrenzung Alltag in diesem Land ist und wir privilegiert sind. Nicht alle aus der Schulklasse fahren in den Sommerurlaub.An unserer Küchenwand hängt ein Polit-Wimmelbild-Poster zum Thema „Recht auf Stadt“ mit einem satirischen „Who is who“ linker Bewegungen. Die Kinder „lesen“ gerne darin. Und haben Fragen: Wieso laufen die vor der Polizei weg, und was steht auf der Hauswand? Das ist nicht immer einfach zu beantworten, aber wir geben uns Mühe beim Erklären – wobei wir versuchen, keine Ressentiments zu erzeugen oder Handlungen zu glorifizieren. Unsere Achtjährige kann Polit-Slogans wie „Wir lassen uns nicht wegsanieren“ oder „Care Revolution“ inzwischen natürlich selbst lesen. Doch was heißt das alles? Gar nicht einfach, einem Kind zu vermitteln, was Care-Arbeit ist – zumal die altbackenen Geschlechterrollen, die anhand dieses Begriffes kritisiert werden, in unserem Alltag nicht bestehen: Das Handwerkliche etwa übernimmt die Mutter, die im Urlaub auch das Leih-Auto fährt.Es gibt keine künstlich enpolitisierte BlaseAuch bei Filmen und Lektüren achten wir auf den politischen Gehalt, was auch zu Widersprüchen führen kann: Dass etwa Die kleine Hexe – ein wundervoll herrschaftskritisches Buch – stellenweise eklig rassistisch geschrieben ist, daraus machen wir keinen Hehl. Sie mögen es, finden es aber gut, Bescheid zu wissen.Natürlich geben wir ihnen lieber Bücher mit Figuren, die so divers sind wie die Kinder in ihrer Neuköllner Schule und im Kreuzberger Kinderladen. Heldengeschichten mit Jungs, die nur weiße Freunde haben, haben nichts mit ihrem Leben zu tun. Alltagsrassismus in der Schule, Verdrängung im Kiez und autofixierte Verkehrspolitik hingegen schon. Wie sollten wir als politische Menschen, die ständig den politischen Gehalt des Alltags reflektieren und, so gut es geht, Position beziehen, unsere Kinder in einer künstlich entpolitisierten Blase halten? Das wäre nur bigott.Ich wurde als Kind schließlich auch politisiert, nicht weil ich als Achtjähriger in der niederbayerischen Fußgängerzone CSU-Wahlbroschüren für meinen Vater verteilt habe, sondern weil die normierte Lebensweise meiner Eltern mir nebenbei eine politische Einstellung vermittelte. Wenn ich als Vater ohnehin „politisiere“, dann doch lieber bewusst. Und es wirkt. Meine Achtjährige, die schon mit Spannung der Klimastreik-Demo am Freitag entgegensieht, rief mich kürzlich zur Ordnung, als ich unbedarft das Wort „Indianer“ benutzte. Das sei „voll rassistisch“, meinte sie, und ich wisse doch wohl, dass es „Native American“ heiße. Ich gebe zu: Das machte mich stolz.Florian Schmid
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