Ratlos am laufenden Band

Bühne Stefan Nagel inszeniert Rolf Dieter Brinkmanns Roman "Keiner weiß mehr". Genauer gesagt: Ohne eigene Idee zum Text illustriert er die Vorlage flott durch

Der Schriftsteller sitzt am Küchentisch und quengelt. Die Unordnung aus Telefon, Büchern, Zeitungen und Schreibmaschine um ihn herum projiziert er auf seine Mitbewohner. Das Kind, das seine Spielsachen in der Wohnung verteilt. Die Frau, die zu spät mit dem Kleinen in den Park geht, die nachts Kleider näht. Der vor sich hin salbadernde Freund. Der Monolog ist ein Dokument der Überempfindlichkeit, die sich an allem und jedem stößt.

Rolf Dieter Brinkmanns 1968 erschienener Roman Keiner weiß mehr, den der Regisseur Stefan Nagel jetzt am Schauspiel Köln herausgebracht hat, inszeniert den Autor als poète maudit. Es war vor allem der Detailrealismus, der damals Leser und die Staatsanwaltschaft aufschreckte. Beschrieben wird der Alltag eines Schriftstellers in der Kleinfamilie zwischen Haferbrei, Sex, Wohnsituation und Lesereise, die zu einer Suada des Ekels ausufert. Brinkmanns Debüt ist aber vor allem ein Beleg der Verunsicherung angesichts einer Wirklichkeit, die sich völlig atomisiert hat und die nur durch einen Textstrom aus subjektiven Beobachtungen zusammengehalten werden kann. Einem Textstrom mit höchst individuellem Sound.

In der Schlosserei, der kleinen Spielstätte des Schauspiel Köln, hängen die Tapetenbahnen wie im Einrichtungsstudio von der Decke, die Klamotten auf der Kleiderstange, die Mitte der Bühne wird von einem Laufband eingenommen. Die drei Schauspieler Christoph Luser, Jennifer Frank und Orlando Klaus kleiden und richten sich ein: Gelbe Lackstiefel, grüne Schlaghose, helle kurze Lederjacke. Angenommene Identitäten, die nicht immer passen („Die Hose ist zu eng“). Mit einer lasziven Müdigkeit lässt Luser, der die Haupttextlast des Erzählers trägt, die Topografie einer Wohnung entstehen: „Alles war einfach nur da ohne eine Bedeutung.“ Auch wenn Jennifer Frank für die Textpassagen der namenlosen Ehefrau, Orlando Klaus für die der Freunde Rainer und Gerald zuständig sind, festgeschriebene Rollen gibt es nicht.

Legosteine, Laufband

Brinkmanns Wortmaschine kommt nur langsam in Gang, der Abend stolpert zunächst vor sich hin. Ein kurzer Moment einer brüchigen Idylle entsteht, wenn das Paar sich auf dem Laufband im Arm hält und von der Schwangerschaft und blutigen Abtreibungsfantasien erzählt. Studienabbruch, die Begegnung mit einer anderen Frau, Alltagsmüll in der Wohnung – die Inszenierung bricht Brinkmanns Text aus Makroaufnahmen eines sezierenden Bewusstsein allzu einfach auf illustrierende Szenen herunter. Legosteine werden herumgeworfen, man begegnet sich auf dem Laufband, streicht Wände an.

Erst nach und nach zieht die Regie den Emphaseregler hoch und entwickelt zumindest zaghaft eine eigene Haltung zum Text. Atmosphärisch unterstützt von der Musikerin Julia Klomfaß an Hammond-Orgel und Soundmaschinen hetzen die Darsteller durch den Bühnenraum. Der Streit des Paares um die Erziehung des Kindes eskaliert als szenische Schleife. Die Outfits der Darsteller gleichen sich bis zu Individualitätslosigkeit an. „Die Maschine läuft tadellos“, heißt es irgendwann – es ist die Maschine des Begehrens, die nie zum Stillstand kommt und alles in den Bewusstseinsstrom des Textes einschmilzt. Nach der scheinhaften Versöhnung des Erzählers mit seiner Existenz folgt ein sarkastischer Blick in eine psychodelische Zukunft zwischen blühenden Geschlechtsteilen und sprießenden Mutationen: „O 1979, alles ist besser geworden“.

Da allerdings war Brinkmann schon vier Jahre tot.

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