Ratten

Feindbilder "Den kenn ich doch?" frage ich mich, als ich das Plakat sehe. Es hängt tesastreifenverankert außen am leeren Schaufenster des toten Ladens, der seine ...

"Den kenn ich doch?" frage ich mich, als ich das Plakat sehe. Es hängt tesastreifenverankert außen am leeren Schaufenster des toten Ladens, der seine Bäckermütze abgeben musste. Diesmal nicht, wie bei anderen kleinen Krautern in der Innenstadt, wegen des finanzstärkeren Schlosspark-Centers am Marienplatz, sondern sehr undank der Ratten auf dem Hinterhof und folgerichtig auch in seinem Keller. Was die starke Konkurrenz nicht geschafft hat, gelang dem Ungeziefer.
"Abgehauen" steht auf dem Plakat. Richtig. Der Mann(e) ist irgendwann mal abgehauen. Nun will er uns wohl bie(de)rmännlich wieder mal erklären, warum, denn gab´s nicht schon ein titelgleiches Buch? Ich erinnere mich, dass ich davon zwei Drittel gelesen und höchstens die Hälfte geglaubt habe. Nach der Wende begrüßte mich in Westberliner U-Bahnstationen sein unverwechselbares Gesicht auf großflächigen Plakaten. "Man gönnt sich ja sonst nichts", grinste es. In meinem Kiez entdecke ich ihn wieder, den heimlich westferngesehenen Kreuzberger Liebling - auf dem billigen Werbeposter am blinden Fenster des toten Bäckerladens. Der verlorene Sohn kehrt heim, wenn auch nur mal zwischendurch. Er nimmt jetzt auch Euro. Es ist beinahe das gleiche Porträt, allerdings - der Mann hat Haare gelassen.
Ich möchte ihn in Erinnerung behalten wie ich ihn zu kennen glaubte, als bewunderten Anderthalbstarken auf der Sonnenseite, als hauptmännischen Florian von der Mühle (obwohl laut MK alle Ostfilme Mist waren, logischerweise dann auch seine), als swingenden Jazzer auf der Freilichtbühne, der konsequent jede Playbackerei ablehnte und lieber kleine Brötchen aß, wie er das in der Abstichpause bei seinen Kumpels im Stahlwerk gelernt hatte. - Außerdem strebe ich jetzt eigentlich einem anderen Ziel entgegen.
Da stößt mein rechter Fuß auf eine Ratte. Oder sie stößt auf meinen Fuß. Verdammtes Vieh! Noch bevor ich die Lage realistisch beurteilen kann, schlägt mein linker Fuß in uneingeschränkter Solidarität mit seinem Nachbarn zu und verpasst dem Gegner einen tödlichen Tritt. Es kullert und scheppert, und eine Blechbüchse wechselt ihren Standort. Etwas verlegen schaue ich auf meine ewig funktionierende Taschenuhr Typ "Molnija PADOR", die mir zeigt, dass ich eilen muss. In der Marktbuchhandlung erwartet mich eine echte niederdeutsche Buchpremiere. Sogar der Ministerpräsident hat sich angekündigt.
Die Veranstaltung ist, wie man so sagt, ein voller Erfolg. Zum Abschluss wird fleißig signiert. Auch des Landesvaters Unterschrift ist begehrt. Als er sie schwungvoll in mein persönliches Exemplar setzt, frage ich ihn so nebenbei: "Was halten Sie von den Ratten in unserer Landeshauptstadt?" Er schaut mich an, lange und eindringlich. Oder starrt er bloß durch mich hindurch? "Ratten in unserer Stadt? Davon weiß ich nichts, mein Name ist Hase, ... zwar stellt die CDU den OB, aber eine Ratte ist der nicht, eher ein schlauer Fuchs". Dann setzt er wiederum schwungvoll seinen Namenszug in den nächsten Volkskalender 2003 Voss un Haas (Fuchs und Haase).

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