Raus aus dem business as usual!

Berliner Volksbühne Chris Dercon will an seinem neuen Arbeitsplatz alles richtig machen. Das ist falsch
Ausgabe 18/2015
Dercon noch vor seinem ersten Arbeitstag einen schweren Stand in der Szene
Dercon noch vor seinem ersten Arbeitstag einen schweren Stand in der Szene

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Chris Dercon ist unendlich sympathisch, erfolgreich, ökonomiekritisch, empathisch, mitreißend und glamourös. Kein Wunder, dass er mit dem Tate Modern das größte und bestdotierte Museum für moderne Kunst auf der Welt leitet. Und jetzt der nächste Schritt: Volksbühne Berlin. Inhaltlich vertritt er tatsächlich nichts, was an der Volksbühne nicht schon vertreten worden wäre. Das betonte er bei seiner ersten Pressekonferenz ausdrücklich. Er lobte seine Vorgänger und versuchte den Eindruck zu erwecken, man verstünde sich blendend. Seine programmatische Rede gipfelte in dem Satz: „Die Volksbühne wird nicht anders sein, sie wird sich weiterentwickeln.“ Das wäre ja schön und niemand hätte etwas dagegen. Aber natürlich wird die Volksbühne völlig anders sein, wenn Frank Castorf, René Pollesch und Bert Neumann nicht mehr dort arbeiten. Sie alle sind als Theaterkünstler mit ihren Teams für Berlin verloren. Sie sollen anderen Platz machen. Ich habe nichts gegen die Künstler, die Dercon aus dem Hut gezaubert hat. Sie sind in Berlin alle bekannt, aber sie als Bewahrer der Kontinuität oder Weiterentwickler der Arbeit von Castorf und Pollesch zu imaginieren, übersteigt meine Vorstellungskraft.

Dieser etwas kleinmütig wirkende „Coup“ – Susanne Kennedy statt Castorf, Romuald Karmakar statt Pollesch – ist eine Zumutung, auch für die Berufenen selbst, die nun an etwas gemessen werden, mit dem sie künstlerisch kaum etwas zu tun haben. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Dercon so im Rahmen des business as usual bleibt. Der Direktor des weltgrößten Museums für moderne Kunst schleift das immer noch irritierendste Theater in Europa, um dort selbst das Theatermachen zu erlernen und Horváth aufzuführen. Er will am neuen Arbeitsplatz alles richtig machen. Das ist falsch. Das sieht wie Rückentwicklung aus. Anders wäre es, wenn Dercon ein paar singuläre bildende Künstler überzeugen könnte (Isa Genzken, Cindy Sherman, Banksy, Damien Hirst, Ryan Trecartin? Keine Ahnung), auf der Volksbühne oder in Tempelhof das Theater noch mal neu zu erfinden. Jetzt mit den gleichen Leuten zu kommen, die bei den anderen Bühnen auch schon auf der Liste stehen, klingt wenig spezifisch.

Carl Hegemann war zwischen 1992 und 2006 zwölf Jahre lang Dramaturg an der Volksbühne

Wenn man die Volksbühne weiterentwickeln will, sollte man deren Substanz nicht zerstören. Das ließe sich vermeiden, wenn man die Dercon versprochenen zusätzlichen fünf Millionen in eine dauerhafte Kollaboration Volksbühne/ Tate Modern investieren würde. Damit würde die ästhetische Spiegelung zweier dem Kapitalismus unterschiedlich entgegentretender Metropolen ermöglicht und Theater und bildende Kunst auf zwanglose Art institutionell zusammengebracht. Dann könnten Castorf und Neumann oder Pollesch oder Fritsch dort mal für ein, zwei Jahre die Leitung übernehmen und die Volksbühne in der durchökonomisierten Tate Modern aufschlagen lassen. Und Dercon könnte mit den besten Künstlern der Welt, die alle in seinem Telefonbuch stehen, in Berlin und der Volksbühne neue, im Theater nie dagewesene antiökonomische Impulse liefern. Und wenn Bruce Nauman plötzlich Horváth inszenierte, würde das zumindest neugierig machen.

Ich würde Chris Dercon allen Ernstes empfehlen, sich das Ganze noch mal zu überlegen. Ist nicht Flexibilität auch eine seiner Stärken? Die feindliche Übernahme eines Theaters macht keinen Sinn, wenn man das, was man selbst an dem Theater gut findet, damit zerstört.

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