Raus aus der Ecke

#MeToo Was die Sexismusdebatte mit dem Wahlrecht zu tun hat
Ausgabe 10/2018
Althistorikerin Mary Beard zeigt auf, wie weit zurück die Tradition reicht, Frauen zum Schweigen zu bringen
Althistorikerin Mary Beard zeigt auf, wie weit zurück die Tradition reicht, Frauen zum Schweigen zu bringen

Foto: Agencia EFE/Imago

Das erste Gebot der Frauen war das Schweigen. „Die Rede gebühret den Männern, und vor allen mir. Denn mein ist die Herrschaft im Hause“, erklärt schon der minderjährige Telemachos seiner eigenen Mutter Penelope in einem der ältesten Texte Europas, Homers Odyssee. Die Fähigkeit und das Recht zur öffentlichen Rede zeichneten den wahren Mann aus, wie Althistorikerin Mary Beard soeben wieder in „Frauen und Macht“ anschaulich beschreibt. Am heutigen 8. März soll das Buch erscheinen. Penelope dagegen wird seit Jahrtausenden an den heimischen Webstuhl und ins Schweigen zurückgeschickt.

Denn wer seine Stimme erhebt, erhebt den Anspruch auf Gleichheit. „Hör mir zu“, bedeutet: Für die Dauer meiner Rede sollst du schweigen. Erkenne mich als jemanden an, dessen Gedanken genauso wichtig sind wie deine. Das kann jemand, der seine Herrschaft sichern möchte, sich nicht bieten lassen. Und so kann der Mann heute noch auf Amazon für 14,95 Euro eine sprechende Frauen-Fernbedienung erstehen, deren erste Anweisung noch vor: „Hol mir ein Bier“ und „Quickie“ lautet: „Schweig, Weib!“

100 Jahre Frauenwahlrecht

1918, vor einhundert Jahren, durften in Deutschland Frauen das erste Mal an die Wahlurne treten. Grund genug für die Freitag-Redaktion, zum Internationalen Frauentag die Hälfte dieser Ausgabe der Hälfte der Menschheit zu widmen: Frauen. Eine Ausgabe, die das Jubiläum von 100 Jahren Frauenwahlrecht zum Anlass nimmt, um sowohl an den Kampf von Frauen- und Wahlrechtlerinnen in Deutschland, England und der Schweiz zu erinnern als auch den Blick über die Historie hinaus zu weiten. Wir rücken den Druck, dem Frauen heute ausgesetzt sind, in den Fokus:

Wie sie es auch anstellen, irgendetwas daran ist immer falsch. Warum? Weil es kein eindeutiges Frauenbild gibt, so wie noch vor einigen Jahrzehnten? Dafür gibt es jede Menge vorherrschende, meist eindimensionale Zuschreibungen: Weibchen mit Kernkompetenz für Kinder, Küche, Vorgarten. Oder machthungrige Karrierefrauen, denen feminine Eigenschaften abhandengekommen sind.

Haben Frauen eine andere Wahl? Dürfen sie einfach so sein, wie sie nun mal sind: stark, schwach, Mutter, kinderlos, Chefin, Hausfrau? So unterschiedlich also wie das Leben selbst? Und eine Wahl jenseits der fakultativ-obligatorischen Möglichkeit, über den Bundestag, ein Kommunal- oder Landesparlament mitzuentscheiden?

Lesen Sie selbst!

Seitdem man Frauen nicht mehr einfach für minderwertig erklären kann, wird die Strategie diversifiziert. Man würde ja die Frauen ernst nehmen, aber leider, leider gibt dieses Exemplar hier nichts Vernünftiges von sich. Sie hat nun zwar eine Stimme, aber sie hat nicht recht. Und so wird mansplained, also unterbrochen, gelacht, es werden die Augen verdreht und – und das ist heute der Kern männlicher Herrschaft: Man hört ihr einfach nicht zu.

Jahrzehntelang pflegte der Bundestag in demonstratives Geplauder und Gewitzel auszubrechen, sobald eine Frau am Rednerpult stand. Der nächste Schritt zur Macht führte in die „Frauenecke“. Wer kennt nicht das süffisante Lächeln der Männer zu diesen Reservaten der Frauenpolitik: „Chapeau, Chapeau!“ – die daraufhin den Rücken kehren und zur männlich dominierten Tagesordnung übergehen.

Alles außer Werfen

Erst jetzt, einhundert Jahre nach dem Frauenstimmrecht, wird den Stimmen der Frauen zugehört – und zuweilen sogar zugestimmt: „Sie hat recht“, hört man mittlerweile immer öfter. In Deutschland brauchte es eine Kanzlerin, ungefähr fünfzigtausend wissenschaftliche Studien, die beweisen, dass Frauen alles außer Werfen genauso gut können wie Männer, und weitere zehntausend, die zeigen, dass es für ein Gemeinwesen besser ist, wenn alle sich daran beteiligen, bis das geschehen konnte. Aber es geschieht.

Woran man das sieht: #metoo, der Debatte zu Sexismus, die durch die öffentlich gewordenen sexuellen Übergriffe des US-Filmprduzenten Harvey Weinstein eine virale Verbreitung fand. Frauen thematisieren männliche Gewalt, vor allem männliche Gewalt gegen Frauen, seit es sie gibt. Doch erst jetzt bricht das Paradigma, dass nicht wichtig ist, was Frauen sagen, in einigen Ländern auf. Frauen haben dort, ob mit oder ohne Frauenecken, so viel Macht, dass man ihnen zuhören muss.

Es stehe Aussage gegen Aussage, heißt es oft bei Prozessen um Gewalt gegen Frauen, besonders um sexuelle Gewalt. Aber, wie eine Zeitung im Fall des deutschen Regisseurs Dieter Wedel so schön zusammenfasste: „Hier steht nicht Aussage gegen Aussage. Hier steht Aussage gegen sehr viele Aussagen.“ Es sind zu viele, als dass man ihnen nicht mehr glauben kann.

Das Schweigen, das erste Gebot der Frauen, hat erst ein Ende, wenn ihre Stimmen öffentliches Gehör finden. Diese Jahre, jetzt gerade, einhundert Jahre nach dem Frauenwahlrecht, sind die, in denen das geschieht. Sie könnten in den Geschichtsbüchern der Zukunft landen. Natürlich nur, wenn die Menschenrechte, die von der Gleichheit aller ausgehen, nicht wieder aus der Mode kommen, wie es in erstaunlich vielen Ländern im Moment der Fall ist. Aber immerhin wissen wir dann, dass es – wenn auch vielleicht nur für einen kurzen Moment der Geschichte – möglich war.

Info

Machtmissbrauch, Sexismus, #metoo. Darüber diskutieren am Weltfrauentag in der radioeins Lounge: Freitag-Chefredakteurin Simone Schmollack, Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski, Schauspielerin Petra Zieser, Soziologe Harald Welzer. Moderation: Katja Weber. Live am 8. März, 19 bis 21 Uhr in Potsdam und auf radioeins

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