Raus aus Europas Teufelskreis!

Gastbeitrag Eine demokratische und soziale EU statt Nationalismus und Rassismus, fordern die Initiatoren des March for A New Europe an diesem Samstag, dem Jahrestag des Brexit-Votums
Europa braucht grundlegende Umbauarbeiten, dann klappt es auch mit dem Ausbruch aus dem aktuellen Teufelskreis
Europa braucht grundlegende Umbauarbeiten, dann klappt es auch mit dem Ausbruch aus dem aktuellen Teufelskreis

Foto: Emmanuel Duand/AFP/Getty Images

Vergangene Woche ging es der CSU um die Schließung der europäischen Binnengrenzen, diese Woche steht die Verhinderung der "Transferunion" auf dem Programm. Europapolitik steht im Zentrum der wichtigsten politischen Debatten und Entscheidungen unserer Zeit. Die Rechte macht sich dabei die Tatsache zunutze, dass solche Entscheidungen vor allem auf europäischen Gipfeltreffen getroffen werden, wo sie dann als Interessenkonflikte zwischen Nationen erscheinen, nicht als ideologische Konflikte zwischen rechts oder links, neoliberal oder sozial. Das macht es der CSU einfach, so zu tun, als vertrete sie die deutschen oder gar bayerischen Interessen gegen die der "faulen Südländer".

Dabei gilt der Angriff der CSU auf die offenen Grenzen nicht nur den Flüchtenden – er gilt auch der europäischen Einigung. Die Schwächsten werden zum Sündenbock einer Politik gemacht, die sich in Wahrheit vor allem um die Sicherung von Macht und Pfründen dreht. Denn solange Globalisierung und Digitalisierung, die wohl wichtigsten Prozesse unserer Zeit, neoliberal institutionalisiert sind, können sich bisherige Eliten wie die bayerische Landesregierung nicht mehr legitimieren, indem sie die Bürgerinnen vor der Macht multinationaler Konzerne oder wachsender sozialer Ungleichheit schützen.

Identitätsfragen und Pseudokonflikte

Insgeheim ist allen Beteiligten klar, dass die Probleme und Krisen des globalen Kapitalismus auf Ebene der alten Nationalstaaten weder gelöst noch überhaupt angegangen werden können. Die Seehofersche Inszenierung eines unabhängigen und wehrhaften Bayerns ist daher nicht nur ein unehrliches Theater, sondern vor allem Ausdruck politischer Hilflosigkeit. Den althergebrachten Eliten bleibt nur, auf Identitätsfragen auszuweichen, rassistische und nationalistische Pseudokonflikte zu schüren und anschließend ebenso lächerliche Pseudolösungen für den "Heimatschutz" zu präsentieren. Der Fokus auf Identitätsfragen funktioniert dabei gleich doppelt als Strategie des Divide et Impera: Sie spaltet linken Widerstand in "urbane Eliten" und "nationalistische weiße Arbeiter" und gleichzeitig das internationale Prekariat in Deutsche, Griechen, Syrerinnen und Chinesen, die angeblich gegeneinander um knappe Ressourcen kämpfen müssten.

Der einzige Ausweg aus diesen Dilemmata ist ein starkes, demokratisches und solidarisches Europa. Nur die geballte Energie einer geeinten Union kann den Facebooks, Nestlés und Shells dieser Welt die Stirn bieten. Nur so könnten überhaupt demokratische und soziale Forderungen von unten in die globale Ökonomie eingespeist werden. Gerade erst hat die maßgeblich im Europäischen Parlament entwickelte Datenschutzgrundverordnung eindrucksvoll gezeigt, welche Macht die europäische Demokratie gegen global operierende Konzerne entfalten kann. Ähnlich müsste sie in Zukunft weitreichende soziale, ethische und ökologische Standards festschreiben, die die derzeitige neoliberale Ausrichtung von Globalisierung und Digitalisierung erschüttern können.

Umbau und Entmachtung

Dafür aber müssen wir das Haus Europa radikal umbauen. Denn solange der europäische Binnenmarkt weiterhin die nationalen Lohn- und Steuerpolitiken unterläuft, wird er zurecht als Bedrohung wahrgenommen. Solange die EU-Politik maßgeblich von den nationalen Regierungen auf ihren Gipfeltreffen betrieben wird, wird sie als nationalistisches Nullsummenspiel erscheinen. Und solange sie vom kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Regierungen abhängig ist, wird Integration nur oder vor allem stattfinden, wenn es darum geht, Europa nach außen abzugrenzen – Rassismus soll zur neuen Grundlage Europas werden.

Aus diesem Teufelskreis kann die europäische Linke nur entkommen, wenn sie die europäische Demokratie stärkt und gleichzeitig daran geht, eine europäische Sozialunion zu errichten. Beides ist voneinander abhängig: Nur sozialer Schutz und soziales Wachstum schaffen die Legitimation, auf der jede demokratische Ordnung basiert. Und nur über demokratische Mitbestimmung können Forderungen sozialer Teilhabe artikuliert und mit Macht ausgestattet werden.

Im Mittelpunkt einer vollen europäischen Demokratie steht ein handlungsfähiges europäisches Parlament mit einem vollen Initiativ- und Budgetrecht, das die Europäische Kommission als europäische Regierung wählt. Der Rat, die Eurogruppe und andere intergouvernementale Gremien müssen entmachtet werden. Erst dann werden Konflikte auf europäischer Ebene als politische Konflikte sichtbar, erst dann können Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Parteien sie gezielt von unten politisieren.

Ein europaweiter Mindestlohn

Schritt eins auf dem Weg zu einem sozialen Europa könnte ein europaweiter Mindestlohn sein. Er würde das extreme Lohngefälle zwischen Nord- und Südeuropa sukzessive schließen und so Spannungen zwischen den Einkommensschwächsten abbauen. Wenn Bulgar*innen und Griech*innen auch in ihrer Heimat anständig entlohnt werden, sinkt der Anreiz für Arbeitsmigration und Lohndumping in Westeuropa. Auch die Rechte und der Schutz von Arbeitnehmer*innen müssen auf europäischer Ebene festgelegt werden, um einen nationalistischen Unterbietungswettbewerb zu verhindern. Fairer Handel in einer freien Zollunion setzt gemeinsame Regeln zum Arbeitsschutz voraus. Ohne sie spielen wir weiterhin die Arbeitnehmer*innen gegeneinander aus.

Eine europäische Arbeitslosenversicherung könnte helfen, asymmetrische Krisen des globalen Kapitalismus zu bekämpfen. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hätte eine solche Versicherung beispielsweise im Krisenjahr 2008 zu einer echten Entschärfung der Situation beigetragen. Der würdelose Umgang mit den Griechinnen und Griechen hat gezeigt, dass Gipfeltreffen, Austeritätspakete und Staatskredite auf allen Seiten antieuropäischen Nationalismus nähren, statt Solidarität zu schaffen. Wir Bürgerinnen und Bürger Europas müssen füreinander einstehen, wenn wir nicht wollen, dass alles Geld in den Händen einer reichen und mächtigen Elite landet.

Schließlich: Nur ein demokratisches Europa kann dem Treiben von milliardenschweren Steuerhinterziehern das Handwerk legen. Die EU muss Steueroasen trocken legen und dem immer absurder werdenden Hochfrequenzhandel durch eine Finanztransaktionssteuer Einhalt gebieten. Eine solche Steuer könne gleichzeitig ein dringend benötigtes eigenes europäisches Budget und damit weitere Solidarleistungen finanzieren.

Ein demokratisches und soziales Europa ist unsere Antwort auf die Rückkehr der Nationalisten und Rassisten. Für dieses Ziel werden wir an diesem Samstag, dem Jahrestag des Brexit-Referendums, beim "March for a New Europe" gemeinsam auf die Straße gehen.

Europa ist in Gefahr. Erneuern wir es.

March for a New Europe am Samstag, 23. Juni 2018

Berlin: 11.45 Uhr, Dorothea-Schlegel-Platz (S-Bahnhof Friedrichstraße)

Brüssel: 11 Uhr, Schuman

Köln: 11.45 Uhr, Ebertplatz

Kopenhagen: 11 Uhr, Nyropsgade

Lissabon: 15 Uhr, Largo Jean Monnet

München: 11.45 Uhr, Siegestor, Akademiestr. 5

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