Raus mit der Sprache!

Selbstbewusstsein Bei der Pride Parade in Berlin demonstrierten Menschen mit Behinderung dafür, dass sie ganz selbstverständlich in die Öffentlichkeit gehören
Ausgabe 29/2014
Demonstrierende auf der "Pride Parade"
Demonstrierende auf der "Pride Parade"

Foto: dpa

Wenn wir als Jugendliche in den frühen 70ern das Scherzlied Rock ‘n’ Roll im Krüppelheim sangen, empfanden wir weder Mitleid noch Häme, sondern Sympathie für die Besungenen. Anders sein und dazu stehen, das wollten wir damals auch.

Aus dieser Generation stammt der subversive Theologe Matthias Vernaldi. Von 1978 an beschäftigte er die Staatssicherheit und eine von ihr infiltrierte Kirchenleitung mit der ersten Behinderten-Normalo-Kommune der DDR im thüringischen 50-Seelen-Dorf Hartroda. Das MfS nannte den operativen Vorgang dazu „Parasit“.

Vernaldi nutzte zwei Gesetzeslücken, um Behinderte zu enthospitalisieren und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Für kirchliche Dienstgebäude war keine behördliche Zuzugsgenehmigung erforderlich, und die nichtbehinderten Kommunarden wurden von behinderten angestellt, sodass sie nicht weggeschickt werden konnten. Die Privatanstellung war dabei eine Vorform von dem, was heute „persönliche Assistenz“ oder „Unterstützung“ heißt.

Seit 1995 lebt Vernaldi in Berlin-Neukölln. Dort ist der von Kind an Schwerstbehinderte jetzt aktiv – als Chefredakteur der von 2007 bis 2012 erschienenen Zeitschrift Mondkalb, im „Bündnis für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen“ und im Landesbeirat für Menschen mit Behinderung. Und er erinnert die politisch Verantwortlichen auch heute immer wieder daran, nicht aus Finanzknappheit das Gegenteil von dem zu tun, was sie 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention versprochen haben.

Hier geht’s um Spaß

Mit der Berliner Pride Parade folgen Vernaldi und seine Mitstreitenden aus Behinderten- und Psychiatriebetroffenen-Netzwerken jedoch einem anderen Ansatz. Hier geht es um Spaß am und mit dem eigenen Behindert- oder Anderssein. Das Spaß-Event von und für Behinderte, Psychiatrieerfahrene und eine interessierte Öffentlichkeit soll aber auch einen zentralen Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention verwirklichen: „die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt“. Oder, wie es im Aufruf dazu in leichter Sprache heißt: „Andere haben versucht, unsere Behinderung oder Verrückt-Heit zu heilen. Wir wollen das nicht! Unsere Behinderung gehört zu uns!“

1990 und 1991 fanden nach dem Vorbild der Black- und der Gay-Pride-Bewegung die ersten Disability Pride Parades in Boston statt. Seit 2004 gibt es sie nach längerer Pause wieder jährlich in Chicago und an immer mehr Orten weltweit, seit 2013 auch in Berlin. Das Ziel der Parade, Behinderung als bereichernde Ausprägung der Vielfalt menschlichen Lebens erlebbar zu machen, soll durch das fröhliche Miteinander aller Teilnehmenden erreicht werden. Und durch Auftritte und Reden, bei denen die Bühne Behinderten und Psychiatriebetroffenen vorbehalten bleibt. Politiker haben dort Redeverbot, ebenso wie Leiter von Behinderteneinrichtungen.

Außer den Initiatoren selbst zeigten am vergangenen Samstag in Berlin auch die Künstler, welche Kraft eine Behinderung freisetzen kann. Zum Beispiel Lucy und Kika Wilke. Kika und Lucy sind Mutter und Tochter. Lucy sitzt seit ihrer Kindheit im Rollstuhl, Kika ist in ihrer Lebensmitte erblindet. Als Gesangsduo blind & lame begeistern die beiden seit einem halben Jahr ihr Publikum mit eigenen Titeln, inspiriert von Gitarrenpop, Gipsy, Rumba, Swing, Country oder Jazz. Und dabei geben sie sich „grenzenlos, selbstbewusst und sexy“. Das kommt an, auch bei den Medien. Bei Talk-runden ist das Duo zurzeit sehr gefragt.

„Die Behinderung spielt insofern eine Rolle bei der Musik, weil wir womöglich ohne die Behinderungen nicht so ein enges Verhältnis hätten“, sagt Kika. Musikalisch ist den beiden etwas Außergewöhnliches gelungen. Weil Lucy wegen ihrer Muskelerkrankung kein Instrument spielen kann, bereichern die beiden ihren Gesang zur Gitarre vor allem durch eine fein austarierte Zweistimmigkeit. Der Sound erinnert an die Singer-Songwriter-Szene der 60er und 70er, ohne dass deren Stil kopiert wird. Fünf Lieder und eine Zugabe von „blind & lame“ – allein dafür lohnte das Kommen.

Die weiteren Auftritte und Reden zeugten von viel Humor, verbunden mit reichlich Kritik an der kapitalistischen Verwertungslogik – insbesondere an Scheinhelfern, die auf dem Rücken Behinderter und Psychiatriebetroffener Geschäfte machen.

Die Glitzerkrücke

Über Facebook waren Vorschläge für die „Glitzerkrücke“ gesammelt worden, eine Auszeichnung für Unternehmen oder Institutionen, die sich besonders ignorant gegen Behinderte oder Psychiatriebetroffene verhalten hatten. So wurde etwa ein Theater vorgeschlagen, das ein Stück über Behinderung zeigt, aber keine Rampen für Rollstuhlfahrer hat. Außerdem das Amtsgericht Bonn, das der 82-jährigen Mutter einer Behinderten für deren Schreie und Lärm Zwangshaft angedroht hatte. Und der Bundestag, der beim Mindestlohn Behindertenwerkstätten ausgenommen hat.

Die Glitzerkrücke ging durch Publikumsentscheid an die Werkhof und Wohnstätten Lebenshilfe Cuxhaven, die 2012 entgegen ihren ethischen Grundsätze unwissentlich Rüstungsgüter durch Behinderte produzieren ließ. Entgegen der Darstellung hatten die Veranstalter die Gewinner aber nicht eingeladen. „Wir wären gern gekommen“, sagt Geschäftsführer Michael Schreckenberger. Man hätte gern erklärt, dass man beim Vertragsabschluss nicht wusste, welche Verwendung der Auftraggeber des Auftraggebers für das Produzierte vorgesehen hatte. Nur hatte man den Fehler gemacht, dass man Rüstungsgüter nicht juristisch wasserdicht ausgeschlossen hatte. Die offene Reaktion der Negativprämierten zeigt aber, dass die Pride Parade noch mehr Potenzial hat, als die Veranstalter vielleicht selbst ahnen.

Christian Johnsen bloggt seit 2009 als Christianberlin in der Freitag-Community.

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